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Samstag, 9. Juli 2022

Die Ukraine im Film: Maidan — Filmbesprechung

 

Jörn Hetebrügge

08.07.2022 / 5 Minuten zu lesen

Im Winter 2013/14 versammeln sich in Kyjiw tausende Menschen zum Protest. Sergei Loznitsas Film dokumentiert den Verlauf der Revolution in streng formaler Weise.

Regie: Sergei Loznitsa

Ukraine, Niederlande 2014

Dokumentarische Form

 

Altersempfehlung: ab 16 Jahren, ab 11. Klasse

 

Eine Menschenmenge hat sich versammelt. Dicht an dicht stehen Frauen und Männer – ältere, mittelalte und auch einige jüngere. Es ist kalt, der Atem dampft, viele tragen Pelzmützen, andere haben Kapuzen auf. Nahezu alle Gesichter blicken in Richtung der Kamera, die offenbar leicht erhöht auf einer Bühne steht. Aus dem Off kündigt ein Redner die Nationalhymne an. Als sie eingespielt wird, stimmen die Menschen fast ausnahmslos in den Gesang ein. Und als die Hymne endet und der Redner (auf Ukrainisch) ruft "Es lebe die Ukraine", erwidert die Menge "Es leben die Helden". Das Bild einer geeinten und patriotischen Bevölkerung.

 

Mit diesem zweieinhalbminütigen Prolog beginnt Sergei Loznitsas Dokumentarfilm "Maidan" (2014) über die Interner Link:Protestbewegung, den sogenannten Euromaidan, auf dem Platz der Unabhängigkeit (Majdan Nesaleschnosti) in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw, die im Winter 2013/14 zum Sturz des prorussischen Präsidenten Janukowytsch führte. Der Ukrainer Loznitsa, 1964 im heutigen Belarus geboren und seit 2001 wohnhaft in Berlin, ist seit jeher ein politischer Filmemacher. In seinen Dokumentar- und Spielfilmen setzt er sich vor allem mit der sowjetischen Geschichte und den postsowjetischen Gesellschaften auseinander. Dabei zeichnet sich seine Arbeit besonders durch den hochgradig reflektierten Einsatz filmästhetischer Mittel aus, der nicht zuletzt auf eine Aktivierung des Publikums zielt.

 

Video

Prolog. Filmausschnitt aus dem Film „Maidan“.

Eine Menschenmenge hat sich versammelt. Der zweieinhalbminütige Prolog aus dem Dokumentarfilm „Maidan“ zeigt das Bild einer geeinten und patriotischen Bevölkerung.

 

Formal strenge Annäherung an eine Revolution

Schon in dieser ersten Einstellung offenbart sich Loznitsas Film als Gegenentwurf zu gängigen dokumentarischen Formaten und ihren teilweise manipulativen Techniken. So hält die Kamera die Szene ungewohnt ausdauernd in einer einzigen starren Totalen fest, ohne einordnenden Kommentar und untermalende Filmmusik. Der Bildausschnitt hebt weder die schiere Masse als Ganzes noch einzelne Personen hervor. Auch tritt die Menge nicht durch eine Externer Link:Schuss-Gegenschuss-Montage in einen "optischen" Dialog mit dem Redner. Loznitsa führt so gleich zu Beginn die Leitideen und zentralen Gestaltungprinzipien des Films ein: Zum einen erzählt "Maidan" keine individuelle Heldengeschichte. Die Held/-innen sind vielmehr die protestierenden Menschen in ihrer Gesamtheit. Zum anderen unterstützen Bild und Ton nicht dabei, die emotionale Wahrnehmung des Publikums zu steuern. Stattdessen sind die Zuschauenden gefordert, sich die Vorgänge selbst zu erschließen – sich selbst ein Bild zu machen. Das widerspricht durchaus konventionellen Sehgewohnheiten, wie der Vergleich mit einem weiteren Dokumentarfilm über den Euomaidan zeigt: In der Netflix-Produktion Externer Link:"Winter on Fire: Ukraine’s Fight for Freedom" (GB, USA, UA 2015, Regie: Evgenyj Afyneewskyj) sind hochdramatische Handkameraaufnahmen mit emotionalisierender Musik unterlegt. Einzelne Akteur/-innen der Proteste werden deutlich hervorgehoben, kommentieren die Ereignisse in nachträglich gefilmten Interviews und lassen die Zuschauer/-innen die Ereignisse aus ihrer persönlichen Sicht nachempfinden.

 

"Maidan" dagegen reiht über seine gesamte Dauer zwei- bis dreiminütige unbewegte Externer Link:Halbtotalen und Totalen aneinander und verwendet ausschließlich Externer Link:Originalton. Die chronologisch angeordneten Impressionen zeigen anfangs eine friedliche, beinahe volksfesthaft anmutende Protestveranstaltung. Freiwillige bereiten Essen zu, schaffen Brennholz für Feuertonnen heran oder errichten Absperrungen, Bürger/-innen musizieren, diskutieren oder deklamieren, Schriftsteller/-innen tragen patriotische Texte vor, Priester halten Andacht. Niemand jedoch spricht direkt in die Kamera und nie fokussiert die Kamera Einzelne. Stets betonen die Aufnahmen das Ausschnitthafte, etwa wenn Passant/-innen das Bild durchqueren oder sich auf der Tonebene Geräusche, Gesänge, Durchsagen oder Gesprächsfetzen kakophonisch mischen. Erst in der Externer Link:Montage der Fragmente ergibt sich so etwas wie ein Gesamtbild des Euromaidan als eine vielfältig zusammengesetzte Bewegung. Als der Film nach etwa 45 Minuten erneut die Situation des Prologs aufgreift, lässt sich so der erste Eindruck mit den anschließend gemachten Beobachtungen abgleichen.

 

In einer improvisierten Küche stehen Menschen mit Schürzen und bereiten verschiedene Speisen vor.

Freiwillige bereiten Essen zu. Szenenbild aus dem Film „Maidan“ von Sergei Loznitsa. (© Grandfilm)

 

Vom friedlichen Protest zu bewaffneten Straßenkämpfen

Wichtig ist: Loznitsa macht seine Regie in klar komponierten, starren Kameraeinstellungen transparent. So finden sich zum Beispiel immer wieder Symmetrien und Frontalansichten. Der Bildstil steht damit im Gegensatz zur in reportageartigen Dokumentarfilmen häufig verwandten Externer Link:Handkameraästhetik, die Spontanität und Authentizität suggeriert. Auch strukturiert er die Bildfolgen durch gelegentliche Schwarzbilder oder anhand von Texttafeln, die das Gezeigte kontextualisieren. Auf diese Weise erfährt das Publikum – allerdings erst nach zwanzig Minuten – den Auslöser der Majdan-Proteste: die Weigerung Janukowytschs, ein Assoziationsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Später markieren die Texteinblendungen die Eskalationsstufen der Ereignisse: Die Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, das Ultimatum der Regierung zur Räumung des Unabhängigkeitsplatzes und schließlich das brutale Durchgreifen des Sicherheitsapparats und die Straßenkämpfe, die mehr als hundert Todesopfer fordern.

 

In den Filmaufnahmen vollzieht sich die Zuspitzung zunächst schleichend. Wahrnehmbar wird sie etwa in Protestierenden, die Militärkleidung tragen – vereinzelt sogar Armeehelme –, aber auch in einzelnen aggressiven Parolen. "Maidan" verheimlicht dabei keineswegs, dass außer den ukrainischen Nationalfarben Gelb und Himmelblau, ab und an auch das Rotschwarz präsent ist, das an die Ukrainische Aufstandsarmee, eine paramilitärische Einheit im Zweiten Weltkrieg und zu Sowjetzeiten, erinnert und als Interner Link:Erkennungszeichen ukrainischer Nationalist/-innen dient. Als die Situation dann eskaliert, entwickelt sich die Dramatik nicht unter forciertem Einsatz filmischer Mittel – wie beispielsweise in der Netflix-Dokumentation —, sondern quasi durch das Geschehen selbst. Eine Ausnahme bildet die erste von zwei Externer Link:Kamerabewegungen im Film, die bezeichnenderweise durch eine von Sicherheitskräften geworfene Tränengasgranate verursacht wird, die den Kameramann zwingt, das Bild neu auszurichten. Der Moment kennzeichnet in "Maidan" den Ausbruch physischer Gewalt. Wie zuvor fängt die Kamera nun in unbewegten und ausdauernden Totalen die Kämpfe ein: Steine und Molotow-Cocktails werfende Protestierende, prügelnde und schießende Milizionäre, brennende Barrikaden. Die Positionierung des Films tritt dabei deutlicher hervor: Die Kamera steht auf Seiten der Aufständischen. Die Polizeikräfte bleiben in den Aufnahmen anonym, meist im Bildhintergrund.

 

Kameraschwenk. Filmausschnitt aus dem Film „Maidan“.

 

Video

Kameraschwenk. Filmausschnitt aus dem Film „Maidan“.

Ein Kameraschwenk markiert den Ausbruch physischer Gewalt. Die Positionierung des Films tritt dabei deutlich hervor: Die Kamera steht auf Seiten der Aufständischen.

 

Loznitsas Film spart auch schockierende Gewalt nicht aus: Er zeigt die (mutmaßliche) Tötung eines Protestierenden, aber auch die eines Polizisten. In beiden Fällen verharrt die Kamera jedoch in der Distanz. "Maidan" lässt keinen Zweifel an der Grausamkeit des Geschehens. Er bildet es ab, ohne zu überwältigen. Vor allem aber dokumentiert er, was mit Blick auf den russischen Angriffskrieg im Jahr 2022 eine neue Aktualität erhält: Den Mut und die Widerständigkeit der ukrainischen Menschen und deren Bewusstsein für ihre eigene Identität.

Verfügbarkeit: Interner Link:bpb-Mediathek

 

Fussnoten

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https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/509286/maidan-filmbesprechung/

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Gedanken zu Krieg und Frieden in Gedichten

Gedanken zu Krieg und Frieden in Gedichten

Lesja Ukrainka „Hoffnung“

Kenn weder die Freiheit noch Freude und Glück, Im Herzen blieb mir nur die Hoffnung zurück. Die Heimat noch einmal wiederzusehen, Wo Winde und Stürme die Hüttenumwehen, Zu sehen den Dneper durchbrausen die Ferne – Ach, leben und sterben möcht‘ ich dort so gerne, – Die Steppen zu sehen, der Trauben Geranke Und dort auch zu denken den letzten Gedanken. Kenn weder die Freiheit noch Freunde und Glück, Im Herzen blieb mir nur die Hoffnung zurück. Lutzk, 1880

Der höhere Friede

Wenn sich auf des Krieges Donnerwagen Menschen waffnen, auf der Zwietracht Ruf, Menschen, die im Busen Herzen tragen, Herzen, die der Gott der Liebe schuf: Denk' ich, können sie doch mir nichts rauben, Nicht den Frieden, der sich selbst bewährt, Nicht die Unschuld, nicht an Gott den Glauben, Der dem Hasse wie dem Schrecken wehrt; Nicht des Ahorns dunkelm Schatten wehren, Daß er mich im Weizenfeld erquickt, Und das Lied der Nachtigall nicht stören, Die den stillen Busen mir entzückt. Heinrich von Kleist (1777 - 1811)

Contra Spem Spero. "Gegen die Hoffnung hoffe ich"

O fort mit dir, herbstliches Klagen! Die Tage des Frühlings beginnen! Soll denn in Verzweiflung Verzagen Die sonnige Jugend zerrinnen? Ich will aber Frohsinn, nicht Beben, Mein Lied soll im Unglück ertönen, Auch hoffnungslos hoff ich im Leben, - O fort mit Euch, Ächzen und Stöhnen! Ich pflanze auf steinigem Felde Viel Blumen, die rot sind und weiß, Ich pflanze bei frostiger Kälte Sie alle auf Schnee und auf Eis. Mit heißen Tränen begieße Ich sie bei klirrendem Frost, Das Eis zergeht, vielleicht sprießen Sie doch auf, und das ist mein Trost. Ich schleppe aufs steilste Gebirge Viel klobige Steine und singe, Sonst würden die Schreie mich würgen, Die in die Kehle mir dringen. Ich schließe die Augen auch nimmer Und schaue ins Dunkel ganz wach, Ich suche des Sternes Erschimmern, Des Königs der finsteren Nacht. Drum will ich stets Frohsinn, nicht Beben, Mein Lied soll im Unglück ertönen, Auch hoffnungslos hoff ich im Leben, - O fort mit Euch, Ächzen und Stöhnen! Lesja Ukrajinka (Pseudonym) *25.02.1871 - † 01.08.1913 (Übersetzerin Jona Gruber)

Der Antritt des neuen Jahrhunderts

Edler Freund! Wo öffnet sich dem Frieden, Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort? Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden, Und das neue öffnet sich mit Mord. Und das Band der Länder ist gehoben, Und die alten Formen stürzen ein; Nicht das Weltmeer hemmt des Krieges Toben, Nicht der Nilgott und der alte Rhein. Zwo gewaltge Nationen ringen Um der Welt alleinigen Besitz, Aller Länder Freiheit zu verschlingen, Schwingen sie den Dreizack und den Blitz. Gold muß ihnen jede Landschaft wägen, Und wie Brennus in der rohen Zeit Legt der Franke seinen ehrnen Degen In die Waage der Gerechtigkeit. Seine Handelsflotten streckt der Brite Gierig wie Polypenarme aus, Und das Reich der freien Amphitrite Will er schließen wie sein eignes Haus. Zu des Südpols nie erblickten Sternen Dringt sein rastlos ungehemmter Lauf, Alle Inseln spürt er, alle fernen Küsten – nur das Paradies nicht auf. Ach umsonst auf allen Länderkarten Spähst du nach dem seligen Gebiet, Wo der Freiheit ewig grüner Garten, Wo der Menschheit schöne Jugend blüht. Endlos liegt die Welt vor deinen Blicken, Und die Schiffahrt selbst ermißt sie kaum, Doch auf ihrem unermeßnen Rücken Ist für zehen Glückliche nicht Raum. In des Herzens heilig stille Räume Mußt du fliehen aus des Lebens Drang, Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, Und das Schöne blüht nur im Gesang. Friedrich von Schiller (1759 - 1805).

Aus dem Zyklus "Melodien" von Lesja Ukrajinka

Verbrenne mein Herz, Yogo hat Feuer gelegt Es tut mir leid für die heiße Iskra des Stocks. Warum weine ich nicht? Mit klarer sloz Warum werde ich keine schreckliche Mode gießen? Meine Seele weint, meine Seele ist zerrissen, Dass Slyosi nicht in einem reißenden Strom eilen Erreiche meine Augen nicht, wenn du schläfst, Bo trocken їkh fest in einem Feuer entzünden. Ich möchte auf ein sauberes Feld gehen, Leg dein Gesicht auf die graue Erde І so zaridati, so morgens pochuli, Schaob-Leute zhahhivshis auf meinen. *** Mein Herz brennt - ein heißer Funke Sorgen leuchteten auf, versengten mich. Also, warum weine ich nicht, was ist mit Tränen? Ich habe es nicht eilig, sie mit bösem Feuer zu füllen? Meine Seele weint in unausweichlicher Sehnsucht, Aber Tränen fließen nicht in einem lebendigen Strom, Brennende Tränen erreichen die Augen nicht, Der Kummer entwässert sie mit seiner Hitze. Ich möchte hinaus ins freie Feld, Auf den Boden kauern, um sich daran zu kuscheln Und schluchz, damit die Sterne hören Damit die Welt von meiner Traurigkeit entsetzt ist. Übersetzung von V. Zvyagintseva

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