Jörn Hetebrügge
08.07.2022 / 5 Minuten zu lesen
Im Winter 2013/14 versammeln sich in Kyjiw tausende Menschen
zum Protest. Sergei Loznitsas Film dokumentiert den Verlauf der Revolution in
streng formaler Weise.
Regie: Sergei Loznitsa
Ukraine, Niederlande 2014
Dokumentarische Form
Altersempfehlung: ab 16 Jahren, ab 11. Klasse
Eine Menschenmenge hat sich versammelt. Dicht an dicht
stehen Frauen und Männer – ältere, mittelalte und auch einige jüngere. Es ist
kalt, der Atem dampft, viele tragen Pelzmützen, andere haben Kapuzen auf.
Nahezu alle Gesichter blicken in Richtung der Kamera, die offenbar leicht
erhöht auf einer Bühne steht. Aus dem Off kündigt ein Redner die Nationalhymne
an. Als sie eingespielt wird, stimmen die Menschen fast ausnahmslos in den
Gesang ein. Und als die Hymne endet und der Redner (auf Ukrainisch) ruft
"Es lebe die Ukraine", erwidert die Menge "Es leben die
Helden". Das Bild einer geeinten und patriotischen Bevölkerung.
Mit diesem zweieinhalbminütigen Prolog beginnt Sergei
Loznitsas Dokumentarfilm "Maidan" (2014) über die Interner
Link:Protestbewegung, den sogenannten Euromaidan, auf dem Platz der
Unabhängigkeit (Majdan Nesaleschnosti) in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw,
die im Winter 2013/14 zum Sturz des prorussischen Präsidenten Janukowytsch
führte. Der Ukrainer Loznitsa, 1964 im heutigen Belarus geboren und seit 2001
wohnhaft in Berlin, ist seit jeher ein politischer Filmemacher. In seinen
Dokumentar- und Spielfilmen setzt er sich vor allem mit der sowjetischen
Geschichte und den postsowjetischen Gesellschaften auseinander. Dabei zeichnet
sich seine Arbeit besonders durch den hochgradig reflektierten Einsatz
filmästhetischer Mittel aus, der nicht zuletzt auf eine Aktivierung des
Publikums zielt.
Video
Prolog. Filmausschnitt aus dem Film „Maidan“.
Eine Menschenmenge hat sich versammelt. Der zweieinhalbminütige Prolog
aus dem Dokumentarfilm „Maidan“ zeigt das Bild einer geeinten und patriotischen
Bevölkerung.
Formal strenge Annäherung an eine Revolution
Schon in dieser ersten Einstellung offenbart sich Loznitsas
Film als Gegenentwurf zu gängigen dokumentarischen Formaten und ihren teilweise
manipulativen Techniken. So hält die Kamera die Szene ungewohnt ausdauernd in
einer einzigen starren Totalen fest, ohne einordnenden Kommentar und
untermalende Filmmusik. Der Bildausschnitt hebt weder die schiere Masse als
Ganzes noch einzelne Personen hervor. Auch tritt die Menge nicht durch eine
Externer Link:Schuss-Gegenschuss-Montage in einen "optischen" Dialog
mit dem Redner. Loznitsa führt so gleich zu Beginn die Leitideen und zentralen
Gestaltungprinzipien des Films ein: Zum einen erzählt "Maidan" keine
individuelle Heldengeschichte. Die Held/-innen sind vielmehr die
protestierenden Menschen in ihrer Gesamtheit. Zum anderen unterstützen Bild und
Ton nicht dabei, die emotionale Wahrnehmung des Publikums zu steuern.
Stattdessen sind die Zuschauenden gefordert, sich die Vorgänge selbst zu
erschließen – sich selbst ein Bild zu machen. Das widerspricht durchaus
konventionellen Sehgewohnheiten, wie der Vergleich mit einem weiteren
Dokumentarfilm über den Euomaidan zeigt: In der Netflix-Produktion Externer
Link:"Winter on Fire: Ukraine’s Fight for Freedom" (GB, USA, UA 2015,
Regie: Evgenyj Afyneewskyj) sind hochdramatische Handkameraaufnahmen mit
emotionalisierender Musik unterlegt. Einzelne Akteur/-innen der Proteste werden
deutlich hervorgehoben, kommentieren die Ereignisse in nachträglich gefilmten
Interviews und lassen die Zuschauer/-innen die Ereignisse aus ihrer
persönlichen Sicht nachempfinden.
"Maidan" dagegen reiht über seine gesamte Dauer
zwei- bis dreiminütige unbewegte Externer Link:Halbtotalen und Totalen
aneinander und verwendet ausschließlich Externer Link:Originalton. Die
chronologisch angeordneten Impressionen zeigen anfangs eine friedliche, beinahe
volksfesthaft anmutende Protestveranstaltung. Freiwillige bereiten Essen zu,
schaffen Brennholz für Feuertonnen heran oder errichten Absperrungen,
Bürger/-innen musizieren, diskutieren oder deklamieren, Schriftsteller/-innen
tragen patriotische Texte vor, Priester halten Andacht. Niemand jedoch spricht
direkt in die Kamera und nie fokussiert die Kamera Einzelne. Stets betonen die
Aufnahmen das Ausschnitthafte, etwa wenn Passant/-innen das Bild durchqueren
oder sich auf der Tonebene Geräusche, Gesänge, Durchsagen oder Gesprächsfetzen
kakophonisch mischen. Erst in der Externer Link:Montage der Fragmente ergibt
sich so etwas wie ein Gesamtbild des Euromaidan als eine vielfältig
zusammengesetzte Bewegung. Als der Film nach etwa 45 Minuten erneut die
Situation des Prologs aufgreift, lässt sich so der erste Eindruck mit den
anschließend gemachten Beobachtungen abgleichen.
In einer improvisierten Küche stehen Menschen mit Schürzen
und bereiten verschiedene Speisen vor.
Freiwillige bereiten Essen zu. Szenenbild aus dem Film
„Maidan“ von Sergei Loznitsa. (© Grandfilm)
Vom friedlichen Protest zu bewaffneten Straßenkämpfen
Wichtig ist: Loznitsa macht seine Regie in klar
komponierten, starren Kameraeinstellungen transparent. So finden sich zum
Beispiel immer wieder Symmetrien und Frontalansichten. Der Bildstil steht damit
im Gegensatz zur in reportageartigen Dokumentarfilmen häufig verwandten
Externer Link:Handkameraästhetik, die Spontanität und Authentizität suggeriert.
Auch strukturiert er die Bildfolgen durch gelegentliche Schwarzbilder oder
anhand von Texttafeln, die das Gezeigte kontextualisieren. Auf diese Weise
erfährt das Publikum – allerdings erst nach zwanzig Minuten – den Auslöser der
Majdan-Proteste: die Weigerung Janukowytschs, ein Assoziationsabkommen mit der
EU zu unterzeichnen. Später markieren die Texteinblendungen die
Eskalationsstufen der Ereignisse: Die Einschränkung der Meinungs- und
Versammlungsfreiheit, das Ultimatum der Regierung zur Räumung des
Unabhängigkeitsplatzes und schließlich das brutale Durchgreifen des
Sicherheitsapparats und die Straßenkämpfe, die mehr als hundert Todesopfer
fordern.
In den Filmaufnahmen vollzieht sich die Zuspitzung zunächst
schleichend. Wahrnehmbar wird sie etwa in Protestierenden, die Militärkleidung
tragen – vereinzelt sogar Armeehelme –, aber auch in einzelnen aggressiven
Parolen. "Maidan" verheimlicht dabei keineswegs, dass außer den
ukrainischen Nationalfarben Gelb und Himmelblau, ab und an auch das Rotschwarz
präsent ist, das an die Ukrainische Aufstandsarmee, eine paramilitärische
Einheit im Zweiten Weltkrieg und zu Sowjetzeiten, erinnert und als Interner
Link:Erkennungszeichen ukrainischer Nationalist/-innen dient. Als die Situation
dann eskaliert, entwickelt sich die Dramatik nicht unter forciertem Einsatz
filmischer Mittel – wie beispielsweise in der Netflix-Dokumentation —, sondern
quasi durch das Geschehen selbst. Eine Ausnahme bildet die erste von zwei
Externer Link:Kamerabewegungen im Film, die bezeichnenderweise durch eine von
Sicherheitskräften geworfene Tränengasgranate verursacht wird, die den
Kameramann zwingt, das Bild neu auszurichten. Der Moment kennzeichnet in
"Maidan" den Ausbruch physischer Gewalt. Wie zuvor fängt die Kamera
nun in unbewegten und ausdauernden Totalen die Kämpfe ein: Steine und
Molotow-Cocktails werfende Protestierende, prügelnde und schießende
Milizionäre, brennende Barrikaden. Die Positionierung des Films tritt dabei
deutlicher hervor: Die Kamera steht auf Seiten der Aufständischen. Die
Polizeikräfte bleiben in den Aufnahmen anonym, meist im Bildhintergrund.
Kameraschwenk. Filmausschnitt aus dem Film „Maidan“.
Video
Kameraschwenk. Filmausschnitt aus dem Film „Maidan“.
Ein Kameraschwenk markiert den Ausbruch physischer Gewalt. Die
Positionierung des Films tritt dabei deutlich hervor: Die Kamera steht auf
Seiten der Aufständischen.
Loznitsas Film spart auch schockierende Gewalt nicht aus: Er
zeigt die (mutmaßliche) Tötung eines Protestierenden, aber auch die eines
Polizisten. In beiden Fällen verharrt die Kamera jedoch in der Distanz.
"Maidan" lässt keinen Zweifel an der Grausamkeit des Geschehens. Er
bildet es ab, ohne zu überwältigen. Vor allem aber dokumentiert er, was mit
Blick auf den russischen Angriffskrieg im Jahr 2022 eine neue Aktualität
erhält: Den Mut und die Widerständigkeit der ukrainischen Menschen und deren
Bewusstsein für ihre eigene Identität.
Verfügbarkeit: Interner Link:bpb-Mediathek
Fussnoten
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https://www.bpb.de/lernen/filmbildung/509286/maidan-filmbesprechung/
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