Bei dem Angriff auf das Akademische Dramatheater in Mariupol im März 2022 handelt es sich um ein Kriegsverbrechen durch russisches Militär. Zu diesem Schluss kommt Amnesty International nach einer umfangreichen Untersuchung.
Amnesty International in Deutschland macht am Donnerstag,
den 30.06.2022, um 22 Uhr mit Lichtinstallationen an mehreren Theatern in
Berlin (Deutsches Theater, Maxim-Gorki-Theater, Renaissance-Theater) auf die
Erkenntnisse aufmerksam.
Der neue Amnesty-Bericht "Children: The Attack on the
Donetsk Regional Academic Drama Theatre in Mariupol, Ukraine"
dokumentiert, wie das russische Militär das Theater am 16. März dieses Jahres
aller Wahrscheinlichkeit nach wissentlich ins Visier nahm, obwohl bekannt war,
dass dort Hunderte Zivilist*innen untergebracht waren.
Das Crisis Response Team von Amnesty International sprach
mit Überlebenden und erhob digitales Datenmaterial. Daraus ergibt sich, dass
der Angriff höchstwahrscheinlich mit einem russischen Kampfflugzeug erfolgte,
das zwei 500-Kilo-Bomben auf das Theater abwarf.
Alle Verantwortlichen müssen für die Todesfälle und
Zerstörung zur Rechenschaft gezogen werden.
Julia DuchrowStellvertreterin des Generalsekretärs und
Leiterin der Abteilung Politik und Activism bei Amnesty International
Deutschland
Julia Duchrow, Stellvertreterin des Generalsekretärs und
Leiterin der Abteilung Politik und Activism bei Amnesty International
Deutschland, sagt: "Bei dem Angriff auf das Theater in Mariupol handelt sich
um ein Kriegsverbrechen seitens russischer Truppen. Bei diesem grausamen
Militärschlag wurden zahlreiche Menschen verletzt und getötet. Allem Anschein
nach kamen sie ums Leben, weil das russische Militär vorsätzlich ukrainische
Zivilpersonen ins Visier nahm. Der Internationale Strafgerichtshof und weitere
Gerichte, die für Verbrechen zuständig sind, die in diesem Konflikt verübt
werden, müssen diesen Angriff als ein Kriegsverbrechen behandeln und
entsprechend untersuchen. Alle Verantwortlichen müssen für die Todesfälle und
Zerstörung zur Rechenschaft gezogen werden."
Netto-Explosivstoffgewicht von 440 bis 600 Kilogramm auf das
Theater abgeworfen
Amnesty International beauftragte eine Physikerin mit der
Anfertigung eines mathematischen Modells der Explosion, um festzustellen,
welches Netto-Explosivstoffgewicht nötig ist, um das verursachte Ausmaß an
Zerstörung herbeizuführen. Dies ergab, dass die Bomben ein
Netto-Explosivstoffgewicht von 400 bis 800 Kilogramm aufwiesen. Ausgehend von
vorliegenden Informationen über die Fliegerbomben, die Russland besitzt,
handelte es sich höchstwahrscheinlich um zwei 500-Kilo-Bomben desselben
Modells, was einem Netto-Explosivstoffgewicht von 440 bis 600 Kilogramm
entsprechen würde.
Bei den eingesetzten Flugzeugen handelte es sich aller
Wahrscheinlichkeit nach um Multirollen-Kampfflugzeuge wie z. B. Su-25, Su-30
oder Su-34, die auf einem nahegelegenen russischen Luftlandeplatz stationiert
waren und häufig über der südlichen Ukraine im Einsatz waren.
Theater war Zufluchtsort für die Zivilbevölkerung
Im Zuge des russischen Einmarsches in die Ukraine gegen Ende
Februar 2022 flohen immer mehr Menschen aus ihren Häusern und Wohnungen, da
Städte und Dörfer zum Ziel militärischer Angriffe wurden. In der belagerten
Start Mariupol in der Region Donezk wurde das Theater zu einem Zufluchtsort für
die Zivilbevölkerung.
Das Theater im Stadtteil Tsentralnyi wurde zu einem
Umschlagplatz für die Verteilung von Medikamenten, Lebensmitteln und
Trinkwasser sowie zu einem Treffpunkt für Menschen, die auf eine Evakuierung
mittels humanitärer Korridore hofften. Das Gebäude war eindeutig als ziviles
Objekt erkennbar. Die Bewohner*innen der Stadt hatten auch in riesigen
Buchstaben das Wort "Дети" – russisch für "Kinder" – rechts
und links auf den Hof neben das Gebäude geschrieben. Dies sollte für russische
Pilot*innen und auf Satellitenaufnahmen deutlich zu sehen gewesen sein.
Dennoch wurde das Theater am 16. März um kurz nach 10 Uhr morgens
getroffen. Die darauffolgende Explosion brachte das Dach und große Teile zweier
tragender Wände zum Einsturz. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich Hunderte
Zivilist*innen entweder in dem Theater oder in unmittelbarer Nähe.
Amnesty International hat ermittelt, dass mindestens zwölf Menschen durch
den Angriff getötet und viele weitere schwer verletzt wurden. Diese Schätzung
liegt niedriger als vorherige. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass sehr viele
Menschen das Theater in den Tagen vor dem Angriff verlassen hatten und die
meisten verbliebenen Personen im Keller des Theaters oder in anderen Teilen des
Gebäudes Zuflucht suchten, die nicht von der vollen Wucht der Explosion
getroffen wurden.
Völkerrecht verbietet Angriff ziviler Objekte
Ein Grundprinzip des humanitären Völkerrechts besagt, dass die an einem
bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien jederzeit zwischen Zivilpersonen und
zivilen Objekten einerseits sowie Militärangehörigen und militärischen Objekten
andererseits unterscheiden müssen. Militärische Objekte können ins Visier
genommen werden; Zivilpersonen und zivile Objekte dürfen es nicht.
Die Art des Angriffs auf das Theater – die bombardierten Teile des Gebäudes
sowie die wahrscheinlich verwendeten Waffen – und das Fehlen eines potenziell
legitimen militärischen Ziels in der Nähe deuten stark darauf hin, dass das
Theater das beabsichtigte Ziel war. Demzufolge handelt es sich um einen
vorsätzlichen Angriff auf ein ziviles Objekt und ist daher ein
Kriegsverbrechen.
Julia Duchrow sagt: "Es sind bereits eine ganze Reihe vorsätzlicher
Tötungen an Zivilpersonen in der Ukraine durch die russischen Streitkräfte
bekannt. Jetzt sind gründliche Ermittlungen dringend erforderlich, um die Verantwortlichen
für die verletzten und toten Zivilist*innen sowie für die umfangreichen Schäden
an der zivilen Infrastruktur zur Rechenschaft zu ziehen."
Methodik
Zwischen dem 16. März und dem 21. Juni 2022 sammelte und analysierte
Amnesty International Beweise im Zusammenhang mit dem Angriff auf das Theater
in Mariupol. Dazu gehörten 52 Aussagen von Überlebenden und Zeug*innen des
Militärschlags und seiner Folgen, von denen sich 28 zum Zeitpunkt des Anschlags
im oder in der Nähe des Theaters befanden. Amnesty International analysierte
auch Satellitenbilder und Radardaten von unmittelbar vor und kurz nach dem
Angriff sowie authentisches Foto- und Videomaterial, das von Überlebenden und
Zeug*innen zur Verfügung gestellt wurde, sowie zwei separate Baupläne des Theaters.
Zusätzlich führte das
Crisis Evidence Lab der Organisation eine Open-Source-Recherche durch und
untersuchte und verifizierte 46 Fotos und Videos des Militärschlags aus
Sozialen Medien sowie weitere 143 Fotos und Videos, die privat mit Expert*innen
von Amnesty International geteilt wurden.
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