Dr. Stephan
Scholz
24.06.2022 /
7 Minuten zu lesen
Neben
Kanzler Olaf Scholz scheinen auch breite Teile der Gesellschaft in Deutschland
bei Waffenlieferungen in die Ukraine zu zögern. Eine Ursache liegt in der viel
gelobten deutschen Erinnerungskultur.
Viele
Deutsche tun sich schwer damit, die Ukraine in ihrem Widerstand gegen den
russischen Angriffskrieg militärisch zu unterstützen. Eine in der Regierungspolitik
vor allem auf Seiten der SPD deutlich erkennbare Zögerlichkeit scheint – wenn
man aktuellen Umfragen glauben darf – auch in Teilen der Bevölkerung verbreitet
zu sein. Personen des öffentlichen Lebens bringen in Talkshows,
Zeitungsartikeln und offenen Briefen nicht nur ihre Ablehnung gegenüber der
Lieferung von schweren Waffen zum Ausdruck. Sie äußern auch generell Unbehagen
und Zweifel an einer militärischen Gegenwehr, deren letztendlicher Nutzen ihnen
angesichts der Opfer und einer möglichen Ausweitung des Krieges fraglich
erscheint.
Gelegentlich
explizit und noch häufiger implizit wird dabei auf die deutsche Erfahrung des
Zweiten Weltkriegs Bezug genommen und auf die Lehren, die daraus zu ziehen
sind. Generationsbedingt spielen dabei eigene Erinnerungen nur noch bei wenigen
Akteuren eine Rolle (und führen auch zu höchst unterschiedlichen
Schlussfolgerungen, zum Beispiel bei Klaus von Dohnanyi und Gerhart Baum).
Manche rekurrieren, wie Harald Welzer, auf familiäre Kriegserinnerungen. Von
noch größerer Bedeutung ist heute aber wohl die öffentliche Erinnerungskultur,
die sich in den vergangenen Jahrzehnten herausgebildet hat und den
gesellschaftlichen Blick auf Geschichte und Gegenwart gleichermaßen prägt.
Eine
"offene und selbstreflexive Debatte um erneuerte historische
Vergewisserung" sei in einem "Deutschland der
"Zeitenwende"" dringend nötig, schreibt Michael Wildt im
Zusammenhang der Debatte über das Verhältnis von Holocaust und Kolonialismus.
Aber gerade auch der Krieg in der Ukraine stellt die deutsche Erinnerungskultur
auf den Prüfstand. Es stellt sich die Frage, auf welche Weise sie zu einer
zurückhaltenden und zögerlichen Haltung gegenüber einer militärischen
Unterstützung der Ukraine beigetragen hat. Bedürfen bestimmte
erinnerungskulturelle Gewissheiten und Gewichtungen vor diesem Hintergrund
einer neuen Bewertung oder veränderten Justierung?
"Nie
wieder Auschwitz" – "Nie wieder Krieg"
Konstitutiver
Bezugspunkt und negatives Zentralereignis der deutschen Erinnerungskultur ist
heute unbestreitbar der Holocaust. "Nie wieder Auschwitz!" ist seit
den 1980er Jahren erinnerungskultureller Kernbestand und handlungsleitende
Maxime zugleich. Vor allem im politisch eher linken Spektrum verband sich damit
vielfach das pazifistische Diktum "Nie wieder Krieg!". Zusammen
wirkten beide lange Zeit wie zwei Seiten derselben Medaille. Tatsächlich war
der Holocaust nur vor dem Hintergrund des deutschen Eroberungskrieges möglich
geworden. Andererseits wurde Auschwitz aber auch nur durch die Kriegführung der
Alliierten befreit und die Shoah durch ihren militärischen Einsatz beendet.
Dass eine
Umsetzung von "Nie wieder Auschwitz!" bedeuten konnte, auch
militärisch eingreifen zu müssen, wurde in den 1990er Jahren im Zusammenhang
mit den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien in einem für viele schmerzhaften
und kontrovers geführten Prozess zunehmend erkannt. Trotz dieser Erkenntnis
blieb dennoch die Ansicht dominierend, dass Deutschland sich wegen seiner
Geschichte bei militärischen Aktionen besonders zurückhalten sollte.
Aufgrund der
historischen Erfahrung, mit dem Zweiten Weltkrieg unermessliches Leid über
andere Völker gebracht zu haben und an seinem Ende auch selbst Opfer dieses
Krieges geworden zu sein, hielt sich die Überzeugung, dass Krieg prinzipiell
ein illegitimes Mittel sei und insbesondere von deutscher Seite nicht
angewendet werden dürfe. Dies galt vor allem für Konflikte, die nicht eindeutig
mit genozidalen Verbrechen einhergingen.
Die
Verhinderung bzw. Beendigung des Völkermordes an den Juden und Jüdinnen war auf
Seiten der Alliierten im Zweiten Weltkrieg allerdings weder Ursache noch
primäres Motiv ihrer Kriegsführung. Sie reagierten vielmehr auf die aggressive
Expansionspolitik Deutschlands. Die damit verbundenen deutschen Verbrechen
unterhalb der Schwelle des Völkermords – der deutsche Angriffskrieg, die
Bombardierung von Städten, massenhafte Verschleppungen von Zivilisten zur
Zwangsarbeit, die rassistische und brutale Besatzungspolitik gegenüber der
Bevölkerung nicht nur, aber vor allem in Osteuropa – sind in der deutschen
Erinnerungskultur weniger verankert. In den davon betroffenen Ländern sind sie
dagegen nach wie vor präsent. Sie legitimieren hier rückblickend den Kampf
gegen das nationalsozialistische Deutschland ebenso wie die grundsätzliche Überzeugung,
dass Kriege notwendig sein können.
Kämpfen
lohnt sich nicht
Anders als
ihre ehemaligen Kriegsgegner haben die Deutschen nicht die Erfahrung eines
breiten und letztlich erfolgreichen Widerstandes sowie der Selbstbefreiung vom
Nationalsozialismus gemacht. In die deutsche Erinnerungskultur ging vielmehr
die Erfahrung ein, im Zweiten Weltkrieg für die falsche Sache und nur in sehr
wenigen Fällen und zudem vergeblich gegen den Nationalsozialismus gekämpft zu
haben. Die deutsche Bilanz aus dem Zweiten Weltkrieg war, dass der Kampf der
Soldaten schlecht und die wenigen Beispiele gewaltsamen Widerstandes erfolglos
geblieben waren.
"Unsere
Großeltern […] haben Widerstand geleistet. Und das müssen wir auch heute
tun." Ein solcher Satz, den der britische Publizist Paul Mason kürzlich
zum Ukrainekrieg schrieb, ist in der deutschen Debatte noch nicht gefallen und
auch nur schwer vorstellbar. Die historische Erfahrung eines notwendigen
Kampfes für eine gerechte Sache fehlt in der jüngeren deutschen Erinnerungskultur
ebenso wie die Erfahrung, dass gewaltsamer Widerstand gegen einen
verbrecherischen Gegner nicht nur moralisch geboten, sondern auch erfolgreich
sein kann. Die deutsche Erfahrung, dass es sich nicht zu kämpfen lohnt,
fundierte dagegen eine Nachkriegserinnerung, die langfristig zu einer
weitverbreiteten Distanz zu jeglichen Formen von Krieg und Gewalt führte.
Damit hatte
sich auch das Modell einer heroischen Kriegserinnerung für die Deutschen
erledigt. Anders in der Erinnerungskultur der Alliierten und der ehemals
besetzten Länder: Die Erinnerung an Soldat:innen, Widerstandskämpfer:innnen und
Partisan:innen, die den Nationalsozialismus nach langem Kampf schließlich
erfolgreich besiegt und dafür Gesundheit oder Leben geopfert hatten, begründete
und festigte hier durchaus auch ein heroisches Gedächtnis. Es wirkt bis in die
Gegenwart fort und wird von deutscher Seite oft mit einer sich postheroisch
gebenden Überheblichkeit als vermeintlich aus der Zeit gefallen belächelt. Erst
spät und ganz allmählich verankerte sich in der deutschen Erinnerungskultur die
Überzeugung, durch den Kampf der anderen nicht nur besiegt, sondern ebenfalls
befreit worden zu sein.
Opferidentität
und Aufarbeitungsstolz
Die
Erinnerung an die siegreichen alliierten Soldaten blieb jedoch ambivalent. Vor
allem die Sowjetsoldaten der Roten Armee – schon bei Kriegsende oft verkürzt
als "die Russen" bezeichnet – wurden und werden bis heute vor allem
als Vergewaltiger deutscher Frauen, als Vertreiber der deutschen Bevölkerung
aus dem Osten oder als spätere Besatzer im Ostteil des Landes erinnert. Nicht
zuletzt aus dieser Erinnerung heraus resultiert heute eine besondere Furcht vor
"den Russen", die als potenziell brutale Gewalttäter besser nicht
provoziert, sondern mit denen lieber eine gütliche Einigung gesucht werden
sollte.
Die
Deutschen selbst bildeten dagegen ein ambivalentes Opfer-Täter-Gedächtnis aus.
Dem lange dominierenden Selbstbild als Opfer der Niederlage, alliierter
Siegerwillkür oder des Krieges selbst stellte sich später ein Täterbewusstsein
an die Seite, das sich vor allem auf die Erinnerung an den Holocaust gründete.
Heute gehört die "Aufarbeitung" besonders dieses Teiles der deutschen
Geschichte fest zum erinnerungskulturellen Selbstverständnis. Dies führt in
Talkshows oder bei anderen Gelegenheiten allerdings gelegentlich auch zu
selbstgefälliger Überheblichkeit gegenüber Repräsentanten nichtdeutscher
Gesellschaften, die in dieser Hinsicht als rückständig betrachtet werden – wenn
sie sich zum Beispiel noch nicht gleichermaßen intensiv mit ihrer
Kollaborationsgeschichte auseinandergesetzt haben – oder denen signalisiert
wird, dass man in historischer Hinsicht keiner weiteren Belehrung mehr bedürfe,
weil man seine Hausaufgaben bereits gemacht habe.
Solidarität
und Zurückhaltung
Trotz der
Verankerung des Täterbewusstseins in der deutschen Erinnerungskultur verstärkte
sich seit dem Ende des Kalten Krieges wieder das Selbstverständnis, auch selbst
Opfer des Zweiten Weltkrieges gewesen zu sein. Das deutsche Opferbewusstsein
war insbesondere seit der Jahrtausendwende medial präsent. Die derzeitige
Solidarität mit den ukrainischen Opfern des russischen Angriffskrieges und die
umfangreiche Bereitschaft, sie zu unterstützen, erklärt sich auch vor dem
Hintergrund dieser kulturellen Erinnerung an eigene Kriegserfahrungen.
Insbesondere
die Empathie und Hilfsbereitschaft gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen –
meist Frauen und Kinder – scheinen auch eine Folge des etablierten deutschen
Opferselbstbildes in der Erinnerung an die meist weiblich visualisierten
deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen vor und nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs zu sein. Die Vergegenwärtigung der Männer, die heute und damals als
Soldaten kämpfen, ruft im deutschen Fall dagegen das Täterbewusstsein auf.
Kämpfende Männer im Krieg – das ist in der deutschen Erinnerung ein negativ
besetztes Motiv, das ebenfalls nachwirkt, wenn es um die militärische
Unterstützung der Ukraine geht.
Erinnerungskulturelle
Selbstbezogenheit und politische Zaghaftigkeit
Seit dem
Ende des Zweiten Weltkrieges hat die deutsche Gesellschaft über die Jahrzehnte
hinweg eine wechselhafte erinnerungskulturelle Entwicklung genommen. Sie hat
dabei die Fähigkeit bewiesen, etablierte Formen des historischen
Selbstverständnisses immer wieder selbstreflexiv zu hinterfragen und gegebenenfalls
zu regulieren. Das wurde auch außerhalb Deutschlands mit großer Anerkennung
registriert. Kürzlich meinte dagegen zum Beispiel der liberale polnische
Oppositionsführer und ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk, man könne den
Eindruck gewinnen, dass Deutschland die falschen Lehren aus der Geschichte
gezogen habe.
Vor dem
Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wird deutlich,
dass die deutsche Erinnerungskultur immer noch von einer starken
Selbstbezogenheit bestimmt ist. Zu wenig sind die Kriegserinnerungen der
europäischen Nachbarn und ehemaligen Kriegsgegner wahr- und ernstgenommen
worden. Zu wenig sind sie in eine auf sich selbst gerichtete Beschäftigung mit
der Geschichte eingegangen und konnten hier eine regulative Wirkung entfalten.
In der Folge davon zeigt sich heute gegenüber der Ukraine vielfach eine ebenso
zurückhaltende und zaghafte wie selbstgefällige und überhebliche Haltung. Sie
wird der existenziellen Bedrohung der Ukraine durch Russland ebenso wenig
gerecht wie der damit verbundenen Gefährdung der Demokratie in Europa, für
deren Bestand auch die deutsche Erinnerungskultur eine Mitverantwortung trägt.
Der Text ist zuerst erschienen auf der Website "Geschichte der Gegenwart", Externer Link:
Wir danken dem Autoren für die Erlaubnis zum Nachdruck.
Fussnoten
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