Was bedeutet der russische Angriffskrieg auf die Ukraine für
Deutschland – für die Außenpolitik, für das Selbstbild, für die
Erinnerungskultur? Hier gibt es Antworten aus verschiedenen Perspektiven.
Interner Link: Ukraine-Analysen Nr. 268 (PDF)
Kommentar: Abschied vom Wolkenkuckucksheim. Deutschlands
langsamer Wiedereintritt in die Weltpolitik
Die russische Invasion in der Ukraine stellte auch viele bis
dahin lieb gewonnene deutsche Überzeugungen über internationale Beziehungen in
Frage, mein Andreas Umland.
Andreas Umland
In einer historischen Rede verkündete Bundeskanzler Olaf
Scholz am 27. Februar 2022 eine Zeitenwende in der europäischen
Nachkriegsgeschichte und deutschen Außenpolitik. Der Beginn der unverhohlenen militärischen
Invasion und Bombardierung der Ukraine durch Russland drei Tage zuvor hatte
nicht nur die kooperative Phase der Ost-West-Beziehungen nach Ende des Kalten
Krieges beendet. Er stellte auch viele bis dahin lieb gewonnene deutsche
Überzeugungen über internationale Beziehungen im Allgemeinen und die Berliner
Ostpolitik im Besonderen in Frage.
Bis vor gut zwei Monaten beruhte ein Großteil des deutschen
geopolitischen Denkens auf einer rosigen Sichtweise auf europäische
Zeitgeschichte. Die deutsche Öffentlichkeit lebte, was die Quellen und
Funktionsweise zwischenstaatlicher Konflikte anging, in einem
Wolkenkuckucksheim. Das vorherrschende deutsche außenpolitische Paradigma ging
davon aus, dass sich bewaffnete Konfrontationen (die nicht von Adolf Hitler
initiiert wurden) durch Missverständnisse und mangelnde Kommunikation erklären.
Politischer Dialog, kultureller Austausch, Entwicklungshilfe, wirtschaftliche
Kooperation und diplomatische Verhandlungen erzeugen – anstelle von
Militärbündnissen, Abschreckung und Verteidigungsanstrengungen – nachhaltige
nationale Sicherheit und Frieden. Aus dieser Sicht brauchte Deutschland keine
akademische Kriegsforschung, sondern war bestens mit ihrer verzweigten
Friedens- und Konfliktforschung bedient.
Der auch heute noch weit verbreitete deutsche weltpolitische
Eskapismus rechtfertigt sich freilich mit einem selbstkritischen Blick auf die
jüngere Geschichte und dem Hinweis auf die deutschen Verbrechen im Zweiten
Weltkrieg. Der Aufstieg pazifistischer Stimmungen in Westdeutschland war jedoch
weniger von tatsächlich angemessenen Lehren aus der Vergangenheit geprägt.
Stattdessen war er in hohem Maße eine Funktion des kostenarmen Schutzes
Westeuropas durch US-Truppen im Allgemeinen und nichtdeutsche NATO-Atomwaffen
im Besonderen.
Mit dem Zusammenbruch des Sowjetblocks und Beginn der EU-
sowie NATO-Erweiterungen in den 1990er Jahren verstärkte sich die
weltpolitische Tagträumerei der Deutschen und ihre Perzeption, dass die
Herstellung internationaler Sicherheit eine ethisch und strategisch
unproblematische Aufgabe sei. Deutschland ist die letzten 30 Jahre
ausschließlich von befreundeten Nationen und Bündnissen umgeben und eng mit
ihnen verbunden. Die günstige geografische Lage der wiedervereinigten Deutschen
und die Verlässlichkeit ihrer Verbündeten schufen den Nährboden für einen
besonders introvertierten außenpolitischen Diskurs, der hohen Moralismus,
unreflektierten Pazifismus und impraktikablen Idealismus zelebriert.
Ein prominentes Beispiel verzerrter deutscher
Selbstreflexion war und ist die Begeisterung vieler Westdeutscher für die so
genannte Neue Ostpolitik. Dieser Erzählung zufolge erzielte die
Herangehensweise der sozialliberalen Koalitionsregierungen gegenüber dem
Ostblock in den 1970er Jahren große Erfolge. Die versöhnliche Wendung im Bonner
Verhalten gegenüber Moskau und seinen osteuropäischen Satelliten während der
Entspannungsperiode habe das Ende des Kalten Krieges 20 Jahre später
vorbereitet.
Dieses selbstbeweihräuchernde, nicht nur sozialdemokratische
Autonarrativ ignoriert jedoch, dass das unmittelbare Produkt der Neuen
Ostpolitik nicht die Perestroika war. Vielmehr begannen der Einmarsch der UdSSR
in Afghanistan 1979 und die rasante Eskalation der Ost-West-Spannungen in den
frühen 1980er Jahren, als die sozialliberale Koalition in Deutschland noch an
der Macht war. Die Welt befand sich bereits am Rande des Dritten Weltkriegs,
bevor Ronald Reagan 1981 Jimmy Carter im Weißen Haus ablöste.
Anstatt sich von den Avancen Westdeutschlands unter Willi
Brandt Anfang der 1970er Jahre beeindrucken zu lassen, begann die Sowjetunion
in der Blütezeit der Neuen Ostpolitik mit der Planung, Entwicklung und dem Bau
ihrer berüchtigten SS-20 Mittelstreckenraketen. Das Auftauchen dieses neuen
Typs von Atomwaffen brachte die Ost-West-Beziehungen in der zweiten Hälfte der
1970er aus dem Gleichgewicht und führte zu enormer Nervosität in ganz Europa.
Schlimmer noch: Moskaus Aufrüstung wurde durch eine gleichzeitige groß angelegte
sowjetisch-deutsche Energiekooperation finanziell begünstigt.
Man sollte meinen, dass das widersprüchliche Endergebnis der
Bonner Annäherung an den Kreml in den 1970er Jahren der deutschen politischen
Elite und breiten Öffentlichkeit eine nachhaltige Lehre erteilt hat. Doch die
eher ambivalenten Aus-, Neben- und Nachwirkungen der Neuen Ostpolitik wurden
nie kritisch reflektiert. Obwohl die Entspannungsphase vor den konservativen
Regierungswechseln in Washington und Bonn Anfang der Achtziger endete, geriet
in Vergessenheit, dass sie nur kurz und ihre Errungenschaften nicht nachhaltig
waren. Das bis heute anhaltende Versäumnis einer rationalen Bewertung der Neuen
Ostpolitik führte einige Jahrzehnte später zu einer merkwürdigen Wiederholung
zweischneidiger deutscher Außenwirtschaftsbeziehungen mit Moskau.
1970 wurde das bis dahin größte sowjetisch-westdeutsche
Finanzgeschäft, der so genannte Röhrenkredit 1 zum Bau eines Gaspipelinesystems
zwischen Westsibirien und der Europäischen Gemeinschaft abgeschlossen; neun
Jahre später folgte der Einmarsch Moskaus in Afghanistan. Im Jahr 2005 wurde
das bis dahin größte europäische Investitionsprojekt, der Bau der ersten
Nord-Stream-Gasleitung von Russland nach Deutschland auf dem Grund der Ostsee,
begonnen; neun Jahre später folgte die Annexion der Krim durch Moskau und das
Anheizen eines Pseudo-Bürgerkriegs in der Ostukraine. Im Jahr 2015 arrangierten
Berlin und Moskau den berüchtigten Nord-Stream-2-Vertrag zwischen Gazprom und
einer Reihe westeuropäischer Energieunternehmen; sieben Jahre später folgte der
Beginn einer groß angelegten russischen Invasion in der Ukraine 2022.
Zwar waren die Zeitenwende-Rede von Scholz vom Februar sowie
zahlreiche ähnliche Erklärungen anderer deutscher Mainstream-Politiker vor dem
Hintergrund früherer eskapistischer Interpretationen ermutigend. Die vielen
Ankündigungen einer neuen Berliner Außenpolitik-Doktrin und darauffolgende
intensive Mediendiskussion über die deutsche Fehleinschätzung Putins haben sich
jedoch bisher in Umfang und Tiefe in Grenzen gehalten. Deutschland unterstützt
zwar weitreichende Sanktionen und liefert Waffen an die Ukraine. Die deutsche
Kehrtwende hat jedoch keine ausreichende Selbstreflexion über die Ursachen
vergangener Fehltritte ausgelöst und noch nicht zu einer vollwertigen Anpassung
außenpolitischer Prärogative Berlins geführt.
Die historischen und ideellen Ursachen für das fragwürdige
Engagement Deutschlands mit Putin & Co. in den letzten zwanzig Jahren sind
noch immer nebulös. Der ehemalige Bundeskanzler und heutige Rosneft-Mitarbeiter
Gerhard Schröder ist nach wie vor ordentliches Mitglied der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Das Aufzeigen störender Ambivalenzen
in der 50-jährigen Bilanz der Bonner und Berliner Ostpolitik gilt in vielen
öffentlichen Debatten in Deutschland immer noch als pietätlos. Die akademische
Kriegsforschung ist an deutschen Universitäten und Forschungsinstituten nach
wie vor ein unterentwickeltes Feld, ja teils tabu.
Die Diskrepanz zwischen den lautstarken pro-ukrainischen Äußerungen
Berlins auf der einen Seite und den nur zögerlichen Entscheidungen über
militärische Hilfe für Kyjiw sowie Sanktionen gegen Moskau auf der anderen
Seite irritiert nach wie vor Deutschlands Verbündete in West und Ost. Für einen
vollständigen Neustart der Berliner Außenpolitik braucht Deutschland mehr als
ein paar politische Reden und Talkshow-Diskussionen. Eine tiefere Untersuchung
und breitere Debatte über das gesamte Spektrum der vergangenen Missgeschicke
sollte dazu beitragen, endlich aus dem geopolitischen Wolkenkuckucksheim, in
dem viele Deutsche immer noch leben, auszuziehen.
Fussnoten
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