Morgen will die EU-Kommission ihre Empfehlung abgeben, ob
die Ukraine den Kandidatenstatus der Europäischen Union bekommen soll. Die 27
EU-Staaten entscheiden auf dem Gipfel kommende Woche, ob sie der Empfehlung
folgen wollen. Dabei ist selbst die Möglichkeit einer EU-Mitgliedschaft der
Ukraine durchaus umstritten. Die Hintergründe.
16.06.2022
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und der ukrainische
Präsident Selenskyj (Archivfoto) (picture alliance / ZUMAPRESS.com | Sarsenov
Daniiar/Ukraine Preside)
Der Status wäre die erste Stufe auf dem Weg zu einer
möglichen Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
Was spricht für den Kandidatenstatus?
Das stärkste Argument ist derzeit, dass man die Ukraine nach
dem Angriff Russlands unterstützen und an die EU binden müsse. Bundeskanzler
Scholz sprach mit Blick auf den Antrag zum Beitritt von einem starken Bekenntnis
der Ukraine zu Europa. Osteuropäische Mitgliedsstaaten verweisen darauf, dass
der Ukraine derzeit der Weg in die Nato versperrt ist. Deshalb sollte sie
zumindest an die EU herangeführt werden. In Deutschland unterstützen die
Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP einen Kandidatenstatus für die Ukraine.
Was spricht gegen den Kandidatenstatus?
Hinter den Kulissen gibt es nach Angaben von EU-Diplomaten
in einigen Ländern Bedenken gegen einen Beitritt. Demnach zählen zu den
Skeptikern neben Deutschland und Frankreich auch Schweden, die Niederlande,
Dänemark und Portugal. Ein Grund ist, dass kein Land mit ungelösten
territorialen Konflikten der EU beitreten kann. Diesen Konflikt gibt es aber
schon seit der russischen Annexion der Halbinsel Krim im Jahr 2014 und den
pro-russischen Separatisten-Gebieten im Osten der Ukraine. Bemängelt werden
auch die grassierende Korruption in der Ukraine und die mangelnden
Rechtsstaatlichkeit.
Der Europäische Rechnungshof hatte der Ukraine im September
ein Versagen im Kampf gegen die "Großkorruption" attestiert und
Seilschaften "zwischen Oligarchen, hochrangigen Beamten, Politikern, der
Justiz und staatseigenen Unternehmen" beklagt. Südländer wie Portugal
könnten zudem finanzielle Einbußen erleiden, wenn milliardenschwere EU-Fördermittel
in die Ukraine umgeleitet werden. Diese Probleme würden erst bei einem
tatsächlichen Beitritt relevant, nicht schon beim Kandidatenstatus.
Wäre die EU bereit für die Ukraine?
Vor allem Frankreichs Präsident Macron hat darauf verwiesen,
dass sich die EU vor der Aufnahme weiterer Länder erst selbst reformieren
müsse. Ähnlich äußerte sich auch EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen. Bei
ihrem Besuch in Kiew untermauerte sie ihre Unterstützung, forderte aber auch
Reformen von dem Land, etwa im Kampf gegen die Korruption. In Brüssel wird
dennoch erwartet, dass die Kommission einen Kandidatenstatus mit Auflagen für
die Ukraine empfiehlt.
Bundeskanzler Scholz pochte auf eine weitgehende Abschaffung
der Einstimmung bei Entscheidungen der 27 EU-Länder. Sollte ein großes Land wie
die Ukraine mit mehr als 40 Millionen Einwohnern beitreten, hätte dies auch
erhebliche Auswirkungen auf die Geldzuweisungen aus Brüssel und das
Stimmengewicht der einzelnen Länder etwa im Europäischen Parlament.
Was bedeutet der Kandidatenstatus?
Der Status ist nur die erste Stufe eines langen
Beitrittsprozesses mit vielen Zwischenstufen von der Aufnahme von Verhandlungen
bis zur Eröffnung von Beitrittskapiteln. Für jeden Schritt ist jeweils eine
erneute Einstimmigkeit der 27 Mitgliedstaaten erforderlich. Einige Länder haben
schon seit vielen Jahren einen Kandidatenstatus: die Türkei seit 1999,
Nordmazedonien seit 2005, Montenegro seit 2010, Serbien seit 2012. Der Status
allein sagt also nichts über die tatsächlichen Beitrittschancen aus.
Was ist mit anderen Staaten?
Neben der Ukraine haben auch zwei andere ehemalige
Sowjetrepubliken den EU-Beitritt beantragt - die Republik Moldau und Georgien.
Die EU muss entscheiden, ob sie angesichts des russischen Angriffs eine
Sonderregelung für die Ukraine schafft oder ob sie allen drei oder zumindest
auch Moldau einen Kandidatenstatus gibt. Das gilt zwischen den EU-Ländern als
umstritten. Vor allem Bundeskanzler Scholz hatte anfängliche Rufe nach einer
schnellen EU-Mitgliedschaft der Ukraine mit dem Hinweis auf die sechs Westbalkan-Staaten
gekontert, die bereits einen Beitrittsstatus haben. Er drängte die anderen
EU-Partner darauf, endlich den Weg für die Aufnahme von konkreten Verhandlungen
mit Albanien und Nordmazedonien freizumachen. Scholz könnte seine Zustimmung zu
Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine daran knüpfen, dass Albanien und
Nordmazedonien den nächsten Schritt gehen können.
Weiterführende Informationen
In unserem Newsblog zum Krieg in der Ukraine finden Sie
einen Überblick über die jüngsten Entwicklungen, den wir laufend aktualisieren.
https://www.deutschlandfunk.de/newsblog-russland-ukraine-konflikt-100.html
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