Der Krieg in der Ukraine ist in vollem Gange, doch die Pläne für den Wiederaufbau werden bereits geschmiedet. Welche Überlegungen die Frage des Wiederaufbaus komplex machen und welche Fehler aus dem Afghanistan-Krieg nicht wiederholt werden sollten.
„Wir wollen, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Aber wir wollen auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Ukraine nach dem Krieg Erfolg hat, und das ist mein zweiter Punkt: Soforthilfe und Wiederaufbau“: Das sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Anfang Mai.
Wiederaufbau – ein schwieriges Thema, während ein Krieg mitten im Gange ist. Fachleute erwarten einen anhaltenden Abnutzungskrieg zwischen den russischen Truppen und der sich verteidigenden Ukraine. Nach mehr als drei Monaten Krieg gibt es vielerorts Trümmer. Ein solches Ausmaß an Zerstörung hat Europa zuletzt im Zweiten Weltkrieg erlebt. Dennoch will die Ukraine schon jetzt mit dem Wiederaufbau beginnen.
Ergibt das Sinn? „Ja, eindeutig ja“, sagt Niels Annen, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der erst kürzlich in der Ukraine war. Die Menschen seien auf die Hilfe angewiesen und man sende damit eine wichtige politische Botschaft: „dass wir an die ukrainische Demokratie, an die Kraft dieses Landes glauben.“
Wiederaufbau bereits während des Krieges
Was wird der Aufbau von Städten, Straßen und Schulen kosten? „Ich glaube man kann heute noch keine Zahl nennen. Der Krieg, das darf man ja auch nicht vergessen, läuft ja weiter. Er ist noch nicht vorbei. Aber es wird sich sicherlich in einem hohen dreistelligen Milliardenbetrag am Ende bewegen und das bedeutet, die Ukraine kann ihr Land aus eigenen Mitteln, ohne unsere Unterstützung, sicherlich nicht einfach so wiederaufbauen.“ Die Europäische Union hat dazu einen Solidaritätsfonds ins Leben gerufen, auch andere Länder stehen bereit. Aber wie soll die Art der finanziellen Unterstützung ausfallen? Sollten die Geber der Ukraine Geld schenken oder leihen?
Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff [*] mahnte bei einem Gespräch des unabhängigen Centre for Economic Policy Research, für das er mit anderen Forschenden eine Studie zum Wiederaufbau der Ukraine verfasst hatte, die richtigen Schlüsse aus früheren Wiederaufbauprojekten zu ziehen: „Angesichts bisheriger Erfahrungen sollten die Geber verstehen, es braucht Zuschüsse und keine Kredite.“
Die Forschenden verweisen unter anderem auf den Marshallplan der USA für das kriegszerstörte Europa nach 1945, der zu 90 Prozent aus Zuschüssen bestand, womit größtenteils die US-Steuerzahler für den Marshallplan aufkamen.
Zuschüsse oder Kredite?
Zuschüsse, anstatt von Krediten, sollten im Falle der Ukraine eine zentrale Rolle spielen, sagt Markus Berndt, bei der Europäischen Investitionsbank zuständig für Aktivitäten mit Nicht-EU-Ländern: „Aber zu sagen, dass man immer alles nur über Zuschüsse macht, würde meines Erachtens zu kurz greifen, weil es gibt natürlich immer Investitionen, die sich selbst tragen können.“ Beispielsweise der Bau eines Windparks oder einer Bahnstrecke. Der Förderbanker mahnt aber eine vorsichtige Kreditvergabe an: „Was wir natürlich nicht machen sollten ist, dass wir jetzt die Ukraine in eine neue Verschuldungskrise stoßen.“
Zur Finanzierung des Wiederaufbaus empfehlen Fachleute auch auf russisches Finanzvermögen zurückzugreifen. Westliche Zentralbanken haben Guthaben der russischen Zentralbank in Höhe von 350 Milliarden US-Dollar eingefroren. Unter bestimmten Bedingungen wäre es zudem völkerrechtlich möglich, Vermögen von russischen Oligarchen heranzuziehen. Im Gespräch ist auch eine Besteuerung, beispielsweise der russischen Gasexporte nach Europa, um mit den Einnahmen einen Fonds für den Wiederaufbau zu speisen. Mit diesem Mechanismus war der Wiederaufbau Kuwaits nach dem Rückzug Iraks mitfinanziert worden. Der Irak musste die Sondersteuer 30 Jahre lang zahlen.
Dennoch stellt sich im Fall der Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt eine grundsätzliche Frage: Was, wenn Russland den Krieg gewinnt? Mit dem sofortigen Wiederaufbau ist auch ein Risiko verbunden. Anlagen, Gleise oder Häuser könnten durch Angriffe erneut zerstört werden. So wie bei manchen Projekten, die europäische Institutionen in den vergangenen Jahren gefördert haben.
„Mit dem Wiederaufbau zu warten, wäre noch schlechter“
Markus Berndt: „Klar ist, dass man immer wieder das Risiko hat, dass Infrastruktur aufgebaut wird, die dann gleich wieder zerstört wird. Wir haben auch in unseren Programmen nach 2014, nach der Annexion der Krim und im Donbass und anderen Regionen, viele Sachen aufgebaut und wiederaufgebaut und von denen sehen wir jetzt einige zerstört, das wird uns wieder passieren, aber ich glaube, warten wäre noch schlechter.“
Denn das Überleben des Landes hängt nicht nur von militärischen Entscheidungen ab, sondern auch von einer funktionierenden wirtschaftlichen Basis: „Ich denke schon, dass es Sinn macht bestimmte Infrastrukturen jetzt schon wiederaufzubauen, aus zwei Gründen: Erstens, es ist natürlich für die ökonomische Aktivität sehr wichtig, für die Wiederbelebung von Kiew und anderen stark zerstörten Städten. Und zweitens ist es natürlich gerade sehr wichtig, dass wir die Infrastruktur, die benötigt wird, um Exporte durchzuführen, dass wir die wieder auf Vordermann bringen oder neue Infrastruktur aufbauen, die es erlaubt, auch Getreide und andere Exportgüter Richtung Westen zu exportieren, selbst wenn das momentan nicht möglich ist über den Seeweg.“
Wie groß ist also die Gefahr, dass Russland von einem jetzigen Wiederaufbau profitieren könnte? Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki erklärte gerade bei einem Besuch in Kiew, sein Land werde die Ukraine beim Wiederaufbau unterstützen, aber: „Zuerst muss die Ukraine verteidigt werden, müssen die russischen Truppen aus der Ukraine vertrieben werden. Dies sei Aufgabe der gesamten freien Welt.“ Der Präsident der Kyiv School of Economics Tymofiy Mylovanov, einer der Mitautoren der Studie über den Wiederaufbau der Ukraine, plädiert hingegen für einen raschen Beginn: „Es wird nicht den richtigen Zeitpunkt geben, es sei denn Russland verändert sein Verhalten.“
Ökonom: Logistik-Wiederaufbau drängendste Aufgabe
Selbst, wenn der Krieg in der Ukraine ende, bleibe die Unsicherheit bestehen, angesichts des schwierigen Verhältnisses zwischen Russland und der Ukraine. Der Politikberater zieht eine Parallele zu Israel, wo die Bewohner auch in Friedenszeiten jederzeit mit einem Raketenangriff rechnen müssten. Noch größer sei die Gefahr in seinem Land. „Jederzeit könnte eine ballistische Rakete aus Russland einschlagen. Trotzdem müssen wir unsere Wirtschaft entwickeln. Wir sollten also mit dem Wiederaufbau beginnen und experimentieren.“ Wie Israel könnte die Ukraine Gebäude mit unterschiedlichen Nutzungen für Kriegs- und Friedenszeiten anlegen, etwa Tiefgaragen bauen, die auch als Bunker taugen. Wichtig sei auch der schnelle Bau von Wohnungen. Nur dann könnten Flüchtlinge zurückkehren.
Der Ökonom rät zum Aufbau resilienter Wirtschaftsstrukturen. Was er darunter versteht, erläutert er am Beispiel der Logistik, deren Wiederaufbau für ihn eine der drängendsten Aufgaben ist. Aus militärstrategischem und ökonomischem Kalkül sollte man statt weniger großer Anlagen viele kleine Warenlager bauen: “Wenn wir für zehn oder hundert Millionen Dollar ein Warenlager bauen, könnten die Russen es mit einer drei Millionen Euro teuren Rakete zerstören. Bauen wir dagegen zehn kleinere Anlagen und schützen diese Investitionen durch eine Luftabwehr um die Industrieareale, dann steigen die Kosten eines Angriffs für Russland. Gleichzeitig erhöht sich die Sicherheit für die Menschen. Wir sollten deswegen über diese Art von Planung nachdenken, nicht nur mit Blick auf die Logistik.“
Internationale Hilfe gefragt
Mit Blick auf den Wiederaufbau der Ukraine ist häufig die Rede vom Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit hatten die USA stark zerstörten und wirtschaftlich am Boden liegenden Staaten in Europa unter die Arme gegriffen. Im kollektiven Gedächtnis Deutschlands gilt der Marshallplan als Synonym für den erfolgreichen Wiederaufbau.
Für die junge Bundesrepublik seien diese Hilfen wichtig gewesen, wichtiger sei aber die mit dem Marshallplan verbundene Wiedereinbindung des Landes in die internationale Arbeitsteilung gewesen, findet Werner Plumpe, Sozial- und Wirtschaftshistoriker an der Goethe Universität in Frankfurt: „Für die Ukraine stellt sich im Wiederaufbau dieses Problem ja insofern nicht, als sie kein in dem Sinne besetzter Feindstaat ist, wie das Deutschland nach 1945 der Fall war, sondern ihre Integration in die Weltwirtschaft ist ja von Anfang an glaube ich unstrittig, was immer natürlich davon abhängt, wie dieser Krieg ausgeht, aber das ist unstrittig. Die Ukraine wird ganz ohne Frage wegen der Zerstörung internationale Hilfe benötigen, ob das die Form des Marshallplans annehmen wird, da bin ich eher skeptisch, denn die Bedingungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sind doch definitiv andere als wir sie heute haben.“
Problem der Ukraine mit Korruption
Aber wovon hängt es generell ab, ob ein zerstörtes Land sich nach einem Krieg entwickeln kann? Wichtig seien funktionierende politische und wirtschaftliche Institutionen, qualifizierte Arbeitskräfte und ausreichend Kapital. So wie im Westdeutschland der 1950er Jahren, weswegen hier damals der Aufbau der Häuser, Straßen und Fabriken schnell gelang: „Die Daten, die man für die vergangenen Jahre aus der Ukraine hatte, die ja etwa im internationalen Korruptionsindex nie so gut dastand, die lassen einen eher aus diesen Gründen daran zweifeln, ob der Wiederaufbau dort sehr schnell und in welcher Form vor allen Dingen vonstattengehen wird.“
Tatsächlich hat die Ukraine ein großes Problem mit Korruption, was man auch an dem schlechten Zeugnis sieht, welches ihr der Europäische Rechnungshof 2019 ausstellte: „Korruption auf höchster Ebene und sogenannte Staatsvereinnahmung sind in der Ukraine weit verbreitet. Sie behindern nicht nur Wettbewerb und Wachstum, sondern schaden auch dem Demokratisierungsprozess. Dutzende Milliarden Euro gehen jedes Jahr infolge von Korruption verloren.“ Die Nichtregierungsorganisation Transparency International stuft das Land in ihrem Korruptionsindex auf Platz 122 von 188 Staaten ein. Auch die Qualität der Regierungsarbeit der Ukraine bewerten Experten als mangelhaft.
Abschreckende Beispiele Irak und Afghanistan
Peter Conzen, der sein Berufsleben in der Entwicklungszusammenarbeit verbracht und Transparency International mitgegründet hat, attestiert dem Land seit den Protesten auf dem Maidan 2014 dennoch einige Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung: „Es gibt erst Mal eine starke Zivilgesellschaft, die einen starken Druck ausübt auf die Regierung. Man hat Maßnahmen eingeführt wie zum Beispiel ein Softwareprogramm für alle staatlichen Beschaffungen und man schätzt, dass ungefähr zehn Prozent Ersparnisse dadurch entstanden sind.“
Die Regierung habe außerdem eine Antikorruptionsbehörde ins Leben gerufen, die rund hundert Fälle korrupter Personen aufarbeitete. Allerdings haperte es zunächst am Justizsystem: „So dass diese aufgearbeiteten Fälle anschließend nicht nachverfolgt wurden und erst seit 2019 gibt es eben auch ein Antikorruptionsgericht, speziell für solche Fälle eingerichtet, was Sachen auch verfolgt. Das heißt, es ist eine Menge passiert.“
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