Angesichts des Kriegs in der Ukraine und der stark
gestiegenen Inflation machen sich mehr Erwerbspersonen in Deutschland große
Sorgen um ihre eigene wirtschaftliche Situation als zu irgendeinem Zeitpunkt
während der Corona-Krise. Aktuell empfindet rund ein Viertel aller
Erwerbstätigen und Arbeitsuchenden die eigene finanzielle Lage als „äußerst
stark“ oder „stark“ belastend (24 Prozent) und hat große Sorgen um die eigene
wirtschaftliche Zukunft (26 Prozent). Das zeigen neue Ergebnisse aus der
repräsentativen Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung, für die
regelmäßig ein Panel aus Erwerbstätigen und Arbeitsuchenden befragt wird. Unter
Erwerbspersonen mit niedrigem Haushaltseinkommen unter 1.300 Euro netto im
Monat äußert sogar mehr als die Hälfte große Sorgen um die eigene
wirtschaftliche Lage, in der nächsthöheren Einkommensgruppe zwischen 1.301 und
2.000 Euro netto tun das noch fast 40 Prozent. Auch die Belastung durch
steigende Preise ist bei Erwerbspersonen mit niedrigem Einkommen sehr weit
verbreitet (79 Prozent), sie reicht aber auch weit in mittlere
Einkommensgruppen, wo 54 bis 59 Prozent sich große Sorgen um die Inflation
machen.
Die Sorge um die soziale Ungleichheit in Deutschland ist
derzeit ebenfalls ausgeprägter als jemals während der Pandemie: Zwei Drittel
aller Befragten fürchten, dass die Gesellschaft so weit auseinanderdriftet,
„dass sie Gefahr läuft, daran zu zerbrechen“. Drei Viertel glauben, dass die
Einkommensverteilung durch den Ukraine-Krieg ungleicher wird. Dagegen sind die
sozio-emotionalen Belastungen, von denen die Befragten berichten, etwa mit
Blick auf die familiäre oder die Arbeitssituation zwar zuletzt auf das
niedrigste Niveau seit Pandemiebeginn gesunken, offenbar, weil Schul-, Kita-
und Betriebsschließungen im Moment kein großes Thema sind. Unter dem Strich
überwiegen aber Verunsicherung und Unzufriedenheit: Lediglich rund ein Viertel
der befragten Erwerbspersonen ist aktuell zufrieden mit dem Krisenmanagement
der Bundesregierung in der Russland-Ukraine-Krise, rund ein Drittel äußert sich
zufrieden mit Blick auf die Bewältigung der Pandemie.
„Insgesamt zeigt sich das Bild einer stark verunsicherten
Gesellschaft, die mit wenig Zuversicht in die Zukunft blickt. Die Frustration,
dass auf die Pandemie nun gleich die nächste schwere Krise durch den russischen
Angriffskrieg folgt, zehrt an vielen Menschen, die entweder gar nicht mehr über
die Runden kommen oder befürchten, dass ihre individuellen Reserven und die des
Landes schwinden“, sagt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch. „Die Ängste speisen sich
dabei nicht nur aus der sicherheitspolitischen Weltlage, sondern in sehr
starkem Ausmaß aus materiellen Belastungen und Sorgen. Die sind in den unteren
Einkommensgruppen deutlich stärker ausgeprägt. Besonders beunruhigend ist hier,
dass dies Gruppen sind, die schon während der Pandemie deutlich öfter
Einkommenseinbußen hinnehmen mussten“, hebt die wissenschaftliche Direktorin
des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der
Hans-Böckler-Stiftung hervor.
„Sehr viele Befragte haben kein Vertrauen, dass die Lasten
der Ukraine-Krise fair verteilt werden und fühlen sich schon jetzt nicht
ausreichend unterstützt. Das schwächt auch ihr Vertrauen in die Bundesregierung
und demokratische Institutionen insgesamt“, so Kohlrausch. „Es ist daher
dringend notwendig, bei kommenden Verteilungsauseinandersetzungen diejenigen,
die schon finanziell stark unter der Corona-Pandemie gelitten haben, besonders
im Blick zu behalten. Das ist nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit
für die betroffenen Gruppen, sondern auch der Stabilisierung der Gesellschaft
als Ganzem“, sagt die Soziologin.
Kohlrausch hat zusammen mit WSI-Sozialforscher Dr. Andreas
Hövermann die neueste Panel-Welle der repräsentativen Erwerbspersonenbefragung
ausgewertet, die die Hans-Böckler-Stiftung seit Frühjahr 2020 durchführt. Dafür
wurden Ende April 6.234 Erwerbstätige und Arbeitsuchende von Kantar Deutschland
online zu ihrer Lebenssituation während der Pandemie befragt. Dieselben
Personen waren bereits im April, Juni und November 2020 sowie im Januar, Juli
und Oktober 2021 und im Januar 2022 interviewt worden, allerdings teilweise
nicht mit dem vollständigen Fragebogen. Die Befragten bilden die
Erwerbspersonen in Deutschland im Hinblick auf die Merkmale Geschlecht, Alter,
Bildung und Bundesland repräsentativ ab. Durch die Panelstruktur lassen sich
Veränderungen im Zeitverlauf herausarbeiten.
Weniger Ängste vor Corona-Infektion, steigende Sorgen um die
finanzielle Lage
Die weit verbreiteten Belastungen aufgrund der finanziellen
Situation schlagen sich auch in einer gewachsenen Verunsicherung mit Blick auf
die Zukunft nieder. Während die Befürchtungen wegen einer möglichen Ansteckung
mit dem Corona-Virus mittlerweile auf einem Tiefststand sind (mit noch 13
Prozent, die sich „große Sorgen“ machen), sind insbesondere finanzielle Sorgen
bei den Befragten weiter als zuletzt verbreitet. Besonders stark sind die
Sorgen um die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung und die eigene
wirtschaftliche Situation angestiegen (auf jetzt 44 Prozent bzw. 26 Prozent,
die „große Sorgen“ äußern). Weiterhin sorgen sich die Befragten zudem in
erheblichem Ausmaß um den sozialen Zusammenhalt und die Entwicklung der
sozialen Ungleichheit – letztere Sorgen sind mittlerweile auf dem höchsten
Stand seit Beginn der Panel-Befragung und liegen beispielsweise knapp 10
Prozentpunkte höher als auf dem Höhepunkt der ersten Pandemiewelle.
Mögliche Ausweitung des Krieges und steigende Preise lassen
praktisch niemanden kalt
Hauptgrund für die breite Verunsicherung ist aktuell die
Angst vor einer Ausweitung des Ukraine-Krieges – dicht gefolgt von steigenden
Preisen. Nur ein Bruchteil der Erwerbspersonen von 4 bis 6 Prozent äußert hier
keine Sorgen. Befürchtungen um den Zustand der Gesellschaft, um den
Zusammenhalt, die Entwicklung der Ungleichheit und vor einer Destabilisierung
der Demokratie sind ebenfalls weit verbreitet. Zudem sorgen sich viele Befragte
darum, dass Preissteigerungen und eine sich allgemein verschlechternde
wirtschaftliche Situation sehr langfristige Folgen für sie haben: 37 Prozent
äußern große Sorgen um ihre Altersabsicherung, 29 Prozent haben große Sorgen,
ihren Lebensstandard nicht mehr halten zu können (siehe auch Abbildung 3). Auch
ist auffällig, dass viele Befragte sich Gedanken um die hohen Staatsausgaben
machen. Im Vergleich dazu deutlich weniger verbreitet sind Sorgen, die Arbeit
zu verlieren, oder um die eigene berufliche Zukunft. „Aktuell treibt also
weniger die Sorge um einen Jobverlust die Menschen um als vielmehr, dass sie
durch die Inflation mit ihrem Geld nicht mehr über die Runden kommen“, ordnet
WSI-Experte Hövermann die Daten ein.
Große Mehrheit plant, Energieverbrauch zu senken
Die gestiegenen Preise führen zu erheblichen Belastungen bei
vielen. Insgesamt 52 bis 60 Prozent der Befragten berichten von „äußersten“
oder „starken“ Belastungen durch den Anstieg der Lebensmittel-, Energie- und
Kraftstoffpreise. Dies führt jedoch bislang nur teilweise zu
Verhaltensänderungen. Beim Pendeln zur Arbeit sehen Kohlrausch und Hövermann
keine großen Veränderungen gegenüber den Ergebnissen vom Herbst 2021: 75
Prozent der befragten Erwerbspersonen nutzen dazu das Auto. Allerdings denken
jetzt 20 Prozent der KFZ-Pendler darüber nach, auf ein anderes Verkehrsmittel umzusteigen.
Je nach Energieform (Kraftstoff, Warmwasser, Raumwärme, Strom) hat sich eine
Mehrheit von 61 bis 72 Prozent der Befragten vorgenommen, den Energieverbrauch
zu senken. Die meisten planen eher geringfügige Absenkungen, aber immerhin 13
bis 19 Prozent aller Befragten haben sich, je nach Energieart, vorgenommen,
ihren Verbrauch bedeutend zu reduzieren (Abbildung 4).
Die Belastungen der Krise sind erneut ungleich verteilt
Vor allem Personen in Haushalten mit geringeren Einkommen
leiden unter den höheren Preisen. In den Einkommensgruppen bis maximal 2.000
Euro netto berichten 65 bis 75 Prozent von „äußersten“ oder „starken“
Belastungen durch die Energie- oder Lebensmittelpreise und knapp 70 bis knapp
80 Prozent machen sich große Sorgen wegen generell steigender Preise. Bei den
finanziellen Belastungen durch die steigenden Lebensmittelpreise zeigt sich ein
eindeutiger linearer Zusammenhang der höheren Belastung bei niedrigen
Einkommen. Bemerkenswert ist allerdings auch, dass bei den Belastungen für Energie
nur geringfügig weniger Befragte aus Haushalten mit mittleren Einkommen
angeben, „äußerst“ oder „stark“ durch die gestiegenen Preise für Energie
belastet zu sein (rund 60 Prozent). Lediglich die Werte der Höchstverdienenden
sind hier mit 39 Prozent deutlich niedriger (Abbildung 5).
Die Belastungen führen auch zu größeren Sorgen. Hier zeigt
sich nach Analyse von Kohlrausch und Hövermann ein gemischtes Bild: Während die
Sorgen wegen der höheren Preise bis weit in die Mittelschicht hineinreichen,
sind von Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation, die auf noch
konkretere finanzielle Probleme hindeuten, besonders stark Personen mit einem
geringeren Haushaltseinkommen von unter 2.000 Euro belastet. Die Zusammenhänge
sind weitestgehend linear: Je niedriger die Einkommen, desto größer die Sorgen.
Geringverdienende planen auch am häufigsten, ihren Energieverbrauch zu senken.
„Die Daten zeigen, dass die von der Bundesregierung
beschlossenen Entlastungspakete dringend notwendig sind“, sagt Bettina
Kohlrausch. „Ob sie ausreichen werden, neben den erheblichen finanziellen
Belastungen auch die weit verbreiteten Sorgen zu reduzieren, ist aber
zweifelhaft. Zumal Rentnerinnen und Rentner, die von den Entlastungsmaßnahmen
kaum etwas haben, durch unsere Befragung gar nicht erfasst sind.“
Bereits in der Pandemie belastete Gruppen sind auch jetzt
wieder stärker belastet
Verschärfend wirkt sich nach Analyse der Forscherin und des
Forschers aus, dass Befragte, die schon während der Pandemie Einbußen hinnehmen
mussten oder während der Pandemie von besonders hohen sozio-emotionalen
Gesamtbelastungen berichteten, nun erneut deutlich überdurchschnittliche Sorgen
und finanzielle Belastungen haben. Das lässt sich anhand der Panel-Struktur der
Befragung über mehr als zwei Jahre zeigen. „An diesen Befunden wird deutlich,
dass sich für viele Befragte eine Krise nach der nächsten auftürmt. Die
Überschneidungen der besonders belasteten Gruppen sind dabei erheblich“,
erklärt WSI-Experte Hövermann.
Wenig Vertrauen in Krisenmanagement der Bundesregierung,
viele befürchten weitere Zunahme der sozialen Ungleichheit
Die Zufriedenheit mit dem Krisenmanagement der
Bundesregierung in Bezug auf die Corona-Pandemie ist gegenüber der
vorangegangenen Befragungswelle von Januar 2022 leicht gestiegen, allerdings
auf insgesamt niedrigem Niveau: Immer noch 63 Prozent der Befragten äußern
Unzufriedenheit, 34 Prozent sind zufrieden. Noch geringer ist die erstmals
erhobene Zustimmung zum Krisenmanagement der Bundesregierung mit Blick auf den
Ukraine-Krieg: Hier äußern nur 24 Prozent Zufriedenheit, 70 Prozent sehen die
Leistungen der Regierung kritisch. Generell geben lediglich 17 Prozent der
Befragten an, sie hätten großes oder sehr großes Vertrauen in die
Bundesregierung – 5 Prozentpunkte weniger als im Oktober 2021.
Besonders ausgeprägt sind auch Sorgen um die soziale
Gerechtigkeit im Land. Drei Viertel der Befragten fürchten, dass die
Einkommensverteilung durch den Ukraine-Krieg ungleicher wird. Zwei Drittel
fühlen sich vom Staat nicht ausreichend unterstützt. Ebenso viele fürchten gar,
dass die Gesellschaft so weit auseinanderdriftet, „dass sie Gefahr läuft, daran
zu zerbrechen“.
Sehr aufschlussreich ist eine vertiefte statistische Analyse
dazu, welche Zusammenhänge bestehen zwischen Sorgen um die Ausweitung des
Krieges und um die Zunahme der sozialen Ungleichheit einerseits sowie der
Unzufriedenheit mit dem Krisenmanagement der Ukraine-Krise andererseits, betont
WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. Dabei zeigt sich, dass vor allem soziale und
finanzielle Aspekte mit der Unzufriedenheit korrelieren und somit vermutlich
ausschlaggebend sind. „Die aktuell weit verbreitete Unzufriedenheit ist
offenbar vor allem von Sorgen um soziale und finanzielle Fragen getrieben“,
sagt die Soziologin.
So unterscheidet sich die Unzufriedenheit mit dem Management
der Ukrainekrise durch die Bundesregierung nur minimal zwischen Befragten, die
sich große Sorgen und jenen, die sich keine Sorgen wegen einer Ausweitung des
Ukrainekrieges machen. Dagegen ist der Anteil der mit dem Krisenmanagement
Unzufriedenen unter denjenigen, die sich große Sorgen um die Zunahme der
sozialen Ungleichheit machen, deutlich höher als unter denen, die sich darüber
keine Sorgen machen. „Sorge um soziale Themen sind also eher Treiber der
Unzufriedenheit als sicherheitspolitische Sorgen“, konstatiert die
Wissenschaftlerin.
Nochmals bedeutender erscheinen die finanziellen Sorgen. So
sind insbesondere diejenigen Befragten unzufrieden mit dem
Ukraine-Krisenmanagement der Bundesregierung, die sich finanziell nicht
ausreichend vom Staat unterstützt fühlen und sich sehr um die Inflation sorgen.
Diese Befunde zeigen, dass in der Krise eine enorme Sprengkraft liegt, die das
Potenzial habe, die Gesellschaft als Ganzes zu destabilisieren, so Kohlrausch
und Hövermann.
Weitere Informationen:
Die PM mit Abbildungen (pdf)
Kontakt:
Prof. Dr. Bettina Kohlrausch
Wissenschaftliche Direktorin WSI
Dr. Andreas Hövermann
WSI, Projekt zu Sozialen Lebenslagen, Transformation und
demokratischer Integration
Rainer Jung
Leiter Pressestelle
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