Es gibt am Europatag keinen besseren Ort, als in einer Doppelstadt zu sein, als an einer europäischen Universität zu sein – und das mitten im Herzen Europas.
Vor 18 Jahren habe ich nur ein paar Schritte von hier –
genau wie sehr viele Menschen in diesen beiden Städten, in dieser wunderbaren
Doppelstadt – einen ganz besonderen Moment erlebt. Am Vorabend des 1. Mai 2004
standen wir gemeinsam mit hunderten Menschen auf der Oderbrücke und lauschten
gemeinsam unserer europäischen Hymne, der Europahymne. Es war ein ähnlich
schöner Tag wie heute – oder vielmehr eine Nacht, mit Sternenhimmel, oben
Feuerwerk und gemeinsam Europäerinnen und Europäer auf der Brücke – als sich in
diesem Moment Europa im Herzen wiedervereinte. Der damalige deutsche
Außenminister und der polnische Außenminister reichten sich über die Grenze
hinweg die Hände. Wir feierten in dieser Nacht den Beitritt von acht mittel-
und osteuropäischen Staaten in die Europäische Union.
Für uns alle war das kein Moment eines abstrakten
Vertragswerkes von Paragrafen, sondern ein Moment der tiefen Freundschaft. Er
besiegelte das Ende der Teilung unseres Kontinents. Und vor allen Dingen schuf
er wieder etwas Gemeinsames und auch etwas Neues, ein gemeinsames Europa des
Friedens, der Freiheit und der Demokratie.
Damals, mitten in diesem Feuerwerk, wo viele Menschen
feierten, spürte man so ein bisschen, aber noch nicht ganz richtig, was es für
ein Privileg ist, in einem solchen Europa leben zu können. Ich musste damals an
meinen Großvater denken und an das, was er genau an diesem Ort, damals über 60
Jahre zuvor, erlebt hatte. Im Januar 1945 kam er von Osten her in das heutige
Słubice und dann nach Frankfurt (Oder). Auf dem Rückzug als geschlagener Soldat
eines Landes, das in einem grausamen Vernichtungskrieg unfassbares Leid über
Millionen Menschen in Mittel- und Osteuropa gebracht hatte. Mein Großvater hat
mir und seinen vielen Enkelinnen, vor allem Enkelinnen, kurz vor seinem Tod ein
kurzes Buch, das er über sein Leben geschrieben hatte, hinterlassen. Darin
stand: „Ihr könnt nicht erahnen, was ich damals gefühlt und was mich damals
zerrissen hat. Aber ich kann euch eins mitgeben: Was ihr für ein unglaubliches
Glück habt, keinen Krieg erleben zu müssen.“
Und ja, das stimmt. Es ist ein unglaubliches Glück, dass
unsere Generation in Frieden aufwachsen konnte. Aber es ist eben nicht nur ein
Glück, sondern es ist eine Pflicht und eine Verantwortung meiner Generation,
dieses Privileg eines friedlichen, freien und demokratischen Europa zu bewahren
und vor allen Dingen zu verteidigen – für unsere Kinder und unsere Enkelkinder.
Gleichzeitig sage ich offen: Damals auf der Oderbrücke – und
selbst bei meinem Amtsantritt vor einigen Monaten als Außenministerin – hätte
ich niemals gedacht, wie ernst diese Pflicht einmal werden könnte.
Am 24. Februar hat der russische Präsident mit Europas
Frieden auf brutale Art und Weise gebrochen. Die Konferenz heute beschäftigt
sich mit gesellschaftlichen und politischen Brüchen. Der russische
Angriffskrieg auf die Ukraine markiert einen solchen furchtbaren Bruch.
Russlands Aggression zerstört die europäische Friedensordnung, die wir seit
Ende des Kalten Krieges in Europa gemeinsam gebaut haben, und zwar gemeinsam
mit Russland. Jetzt versucht ein mächtiger Staat mit absoluter Gewalt seinen
kleinen Nachbarn zu unterwerfen. Er bombardiert Häuser, Krankenhäuser und
Schulen. Seine Soldaten vergewaltigen und erschießen auf brutalste Art und
Weise Zivilisten.
Russlands Krieg verneint all das, wofür unser nach 1945 und
nach 1989 geschaffenes Europa steht: Frieden und Freiheit, Demokratie und
Menschenwürde. In seiner berühmten Erklärung vom 9. Mai 1950 – heute vor genau 72 Jahren – hat der damalige
französische Außenminister Robert Schuman den Wesenskern der europäischen
Integration benannt, wie er bis heute gilt: Krieg „nicht nur undenkbar, sondern
materiell unmöglich“ zu machen. Und für uns Deutsche ist und bleibt die
Erinnerung an das Kriegsende am 8. Mai 1945 und an die deutschen Verbrechen im
Zweiten Weltkrieg Mahnung und Verpflichtung:
Dafür, das europäische Friedensprojekt und die Versöhnung mit unseren
östlichen Nachbarinnen und Nachbarn voranzutreiben. Präsident Putin dagegen
missbraucht die Erinnerung an die Opfer des nationalsozialistischen
Vernichtungskrieges in Mittel und Osteuropa, um Aggression und Verbrechen zu
rechtfertigen.
Dem treten wir entschlossen entgegen, und zwar gemeinsam in
der EU, in der NATO und den G7. Wir unterstützen die Ukraine massiv in ihrem
Freiheitskampf, finanziell, humanitär, auch mit schweren Waffen. Weil wir in
diesem Moment an der Seite der Opfer stehen müssen und nicht an der Seite des
Aggressors. Und – ich betone das, weil hier heute viele Zuhörerinnen und
Zuhörer aus östlichen Nachbarländern stammen – wir stehen fest an der Seite
unserer mittel- und osteuropäischen Verbündeten. Als ich vor kurzem im Baltikum
war, habe ich erlebt, was es für einen Unterschied macht, wenn die Bedrohung
nicht so abstrakt ist wie vielleicht in einem Hörsaal in Frankfurt (Oder) oder
in Berlin-Mitte. Wenn acht Kilometer weiter die Grenze nach Russland liegt,
dann ist die Bedrohung ganz konkret und real, und zwar für alle Generationen
und Gesellschaften. Und deshalb nimmt mein Land, nimmt Deutschland hier seine Verantwortung
wahr, auch indem wir mehr Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr an die
NATO-Ostflanke schicken.
Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass Militär allein keinen
Frieden bringt. Die Stärke unseres Europas geht weit über militärische,
wirtschaftliche oder politische Mittel hinaus. Wenn wir Robert Schumans Worte
ernst nehmen, Krieg undenkbar und materiell unmöglich zu machen, dann brauchen
wir dafür wirtschaftliche, aber vor allem gesellschaftliche Vernetzung – und
zwar gegenseitig und dauerhaft. Dann heißt das eben, dass Europa nicht nur eine
Wirtschafts-, sondern vor allen Dingen eine Werteunion ist – und diese Werte
uns gemeinsam tragen. Das heißt auch, dass das, was in den letzten Jahren
fälschlicherweise geglaubt worden ist, die Illusion, dass wirtschaftliche
Vernetzung allein schon Demokratisierung und Werte mit sich bringen, fatal war.
Das haben wir jetzt mit diesem Angriffskrieg gesehen.
Wirtschaftliche Interessen und Werte gehören aufs Engste
zusammen. Daher ist es mir wichtig, dass wir in diesen Tagen als Europäische
Union enger zusammenrücken. Und zwar nicht nur im Verteidigungssinne, nicht nur
im wirtschaftlichen Sinne, sondern vor allen Dingen gesellschaftlich. Es ist
zentral, genau in diesem Moment zu sagen: Jetzt müssen wir Europa weiter vertiefen.
Jetzt ist der Moment, in dem wir noch enger zusammenrücken müssen. Das heißt:
Ein klares Wertefundament weiter zu bauen und uns nicht nur zu erweitern – auch
das ist unsere Verpflichtung gegenüber dem westlichen Balkan –, sondern
gemeinsam weiter zu vertiefen, so wie es seit Jahren an dieser Universität
vorausgedacht wird. Dafür steht auch die Konferenz zur Zukunft Europas, die
eben nicht nur Politikerinnen und Politiker, sondern vor allen Dingen
Bürgerinnen und Bürger zusammenbringt und die in diesen Tagen zu Ende geht.
Ziel ist es, das Friedensprojekt Europa für unsere Kinder und Enkelkinder
weiter mit Leben zu füllen.
Denn unser gemeinsames Europa liegt nicht nur in den Händen
von Regierungschefinnen, Ministerinnen, der Diplomatie oder Hauptstädten.
Sondern sie liegt im Herzen der Menschen, im Herzen von Doppelstädten, wo
engagierte Bürgerinnen und Bürger, Wissenschaftlerinnen, Studierende und
Lokalpolitiker Europa jeden Tag leben. Und zwar nicht nur in
Schönwetter–Zeiten, sondern auch, wenn es mal regnet, wenn es mal schwieriger
wird. Das sind die entscheidenden Momente, in denen Europa seine Bürgerinnen
und Bürger braucht. Das sind die entscheidenden Momente, in denen die
Bürgerinnen und Bürger Europas Haus tragen.
Sie haben das hier vor Ort in Frankfurt (Oder) und Słubice
gerade wieder gezeigt, als viele Geflüchtete aus der Ukraine gekommen sind und
beide Städte deutlich gemacht haben: Natürlich nehmen wir Geflüchtete auf. Es
ist eine große Stärke, aus dem zu lernen, was ein paar Jahre davor noch nicht
so gut funktioniert hat und dann zu sagen: Jetzt wissen wir, wie es klappt –
und zwar gemeinsam, indem wir gemeinsam Geflüchtete versorgen, an Bahnhöfen
registrieren. Ich kenne einige hier in diesem Raum und weiß genau, wie viele
von Ihnen an den Bahnhöfen gestanden haben. In den allerersten Tagen, als noch
nicht so ganz klar war, welcher Zug eigentlich von wo aus ankam – da haben hier
die Menschen einfach angepackt. Dafür möchte ich „Danke“ sagen. Das ist unser
Europa, das auf Menschlichkeit setzt, das nicht fragt: „Sind denn schon alle
Formulare bereitgestellt?“ Sondern das einfach macht. Danke! Dziękuję! Дякую!
Das ist unser gemeinsames Europa!
Deswegen hat es mich so gefreut, heute hier her zu kommen.
Es gab diese Momente, gerade mit Blick auf die Pandemie, wo deutlich geworden
ist: Ja, wir haben eine Menge gelernt. Ich erinnere mich noch, als in der
Pandemie auf einmal die Grenze wieder geschlossen worden ist. Da gab es einen
Beitrag im RBB, in dem man sehen konnte, wie sich die Menschen in den Armen
lagen, als die Grenze dann wieder auf war.
Weil man in dem Moment, in dem man das Selbstverständliche
nicht mehr hat, erst spürt, wie wichtig das eigentlich ist.
Das Leben hier vor Ort, wie in vielen anderen Doppelstädten,
passiert auf beiden Seiten des Flusses oder der Grenze. Sie bringen Menschen
tagtäglich zusammen. Mit dem „Salute-Zdravstvo“-Projekt in der Doppelstadt Nova
Gorica-Gorizia, das autistische Kinder und ihre Eltern aus Italien und
Slowenien betreut. Mit den deutsch-polnischen Sport-Meisterschaften der
Grundschulen hier vor Ort in Brandenburg und auf der polnischen Seite, in der
Doppelstadt Guben-Gubin. Oder eben auch, wenn Schülerinnen und Schüler über die
Grenze hinweg wie in Frankfurt (Oder) und Słubice gemeinsam ihr Abitur machen
können. Es sind vor allem die jungen Menschen, die Europa jeden Tag leben.
Ja, ich weiß, diese Arbeit ist nicht immer einfach. Es
braucht dafür Polnisch-Unterricht auf der einen Seite der Grenze. Es braucht
dafür weniger Bürokratie. Und es braucht vor allen Dingen eine Haltung. Aber,
und das darf man nicht vergessen, wenn wir auf einer Konferenz sind, die auch
über Brüche spricht: Natürlich gibt es auch immer Angst und Sorge. Und gerade
in diesem Moment des Krieges halte ich es für wichtig, das auszusprechen und
nicht zu negieren. Denn wir haben auch in dieser Doppelstadt, an unserer langen
gemeinsamen Grenze, erlebt, was es bedeutet, wenn die Angst Oberhand gewinnt.
Dass es nach der Osterweiterung 2004 erst einmal nicht normal war, dass man auf
der anderen Seite arbeiten konnte, sondern ganz im Gegenteil. Wir erinnern uns
noch an die Angst vorm vielbeschworenen „polnischen Klempner“. Die Situation
führte damals erst einmal viele Leute in die Schwarzarbeit. Es dauerte, bis man
erkannte, dass Arbeiten über die Grenze hinweg doch eigentlich eine absolute
wirtschaftliche Stärke ist, die wir gemeinsam nutzen können.
Natürlich sind die letzten Jahre und Jahrzehnte auch mit
gebrochenen Biografien einhergegangen. Und es ist wichtig, dass das hier
angesprochen wird auf dieser Konferenz: Wie man von dem lernen kann, das nicht
gut gelaufen ist. Und wie man davon lernen kann, wie Zivilgesellschaft geholfen
hat, viele dieser Brüche zu überwinden. Daher ist es so wichtig, dass Sie bei
dieser Konferenz die Menschen mit im Blick haben und das Augenmerk gerade auch
auf die Schwächeren legen, so wie es der europäische Aufbauplan auch bei der
Pandemie getan hat. Diese Konferenz der Bürgerinnen und Bürger bedient ein
großes Bedürfnis danach, zuzuhören, ins Gespräch zu kommen und nicht zu sagen:
„Ich habe hier schon die perfekte Antwort.“ Sondern bereit zu sein, auf die
Idee des anderen zu hören und sich in dessen Sichtweise hineinzuversetzen. Das
ist wichtig in einem Moment, in dem wir gemeinsam unser Friedensprojekt Europa
weiterbauen werden und müssen.
Es geht dabei nicht nur um die Sicherheit vor Gewalt und
Krieg, sondern die Sicherheit für die Freiheit unseres Lebens. Ich glaube, das
ist ein wirklich wichtiger Punkt in diesen Tagen. Dass die Freiheit der
Sicherheit unseres Lebens eben nicht nur Gewaltfreiheit bedeutet, dass keine
Bomben mehr fallen. Sondern die große Errungenschaft – die viele Menschen
gerade in Ostdeutschland und in Osteuropa erkämpft haben –, dass Freiheit
bedeutet, nicht nur frei zu sein von Gewalt, sondern frei, seine Meinung sagen
zu können, frei auf die Straße gehen zu können, frei demonstrieren zu können. Genau
dafür steht Frankfurt (Oder)- Słubice.
Und wie damals, 2004 auf der Oderbrücke, bin ich mir sicher:
Unser Europa des Friedens, der Freiheit und der Demokratie ist stark. Es wird
aus den aktuellen Umbrüchen noch stärker hervorgehen. Das ist keine Selbstverständlichkeit,
sondern wir müssen Europa gemeinsam weiterbauen, so wie wir es in den letzten
Jahrzehnten gemeinsam getan haben. Und vor allen Dingen: Wir müssen es leben.
Unser Europa. Jeden Tag.
Herzlichen Dank.
https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/baerbock-europatag/2525612
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