Begründung des Direktoriums der Gesellschaft
für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu
Aachen
an die belarussischen führenden politischen Aktivistinnen
Maria Kalesnikava, Swetlana Tichanowskaja und
Veronica Tsepkalo
„Erst vor wenigen Jahren wurde die Europäische Union mit dem
Friedensnobelpreis geehrt, weil sie in den vergangenen 50 Jahren den Frieden in
Europa gesichert hat. In dieser Zeit hat es so viele friedliche Übergänge von
Diktaturen und unterdrückerischen Regimen zu vollständig freien und offenen
Demokratien gegeben, dass man das Gesicht Europas fast nicht mehr
wiedererkennt. So viel ist erreicht worden, weil der richtige Weg gezeigt
wurde. Ich zweifle nicht daran, dass ein friedlicher Übergang zur Demokratie
auch in Belarus erreicht werden kann. Ich glaube nicht, dass Europa sich bloß
auf den Lorbeeren ausruhen will. Aber es muss Mechanismen einrichten, die seine
Werte fördern. Was in Belarus passiert, wird mit über Europas Erfolg in der
Zukunft entscheiden.“ (ZEIT ONLINE, 9.8.2021)
Dieser flammende Appell, den Swetlana Tichanowskaja noch
kürzlich an die EU richtete, unterstreicht Wesentliches: Seit dem Fall des
Eisernen Vorhangs vor gut drei Jahrzehnten hat Europa eine geradezu
atemberaubende Entwicklung genommen. Aus der damaligen westeuropäischen
Gemeinschaft der Zwölf ist eine umfassende Union der 27 geworden, der
kaufkräftigste Binnenmarkt der Welt, ein global geachtetes Erfolgsmodell.
Doch mit dem Fall der Mauer ist der EU in zunehmendem Maße
auch die Strahlkraft ihrer Begründungserzählung abhandengekommen. Die
historische Dimension des Vereinten Europas als größtes Friedens- und
Freiheitsprojekt der Nachkriegszeit, die über Jahrzehnte außerfrage stand, ist
zunehmend einer wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung gewichen. Und an die
Stelle der Leidenschaft der europäischen Gründerväter trat der Rechenschieber
der Controller.
Während sich aber innerhalb der EU eine zunehmende
Gleichgültigkeit gegenüber der politischen Dimension des europäischen Projekts
Bahn gebrochen hat, tritt gerade an den Außengrenzen der Union die brüchige
Kostbarkeit unserer Friedens- und Freiheitsordnung zutage. Der kriminelle
Versuch beispielsweise des belarussischen Diktators Lukaschenko, Flüchtlinge
und ihre menschliche Not aus egomanen politischen Motiven zu
instrumentalisieren, das von ihm veranlasste terroristische Kidnapping eines
Flugzeuges, um einen missliebigen Blogger rechtsgrundlos zu verhaften, die
Inhaftierung von rund 900 Menschen aus politischen Gründen seit August 2020,
aber auch die Drohungen gegenüber der EU müssen uns bestärken, dass die
gemeinsamen Werte und Grundüberzeugungen, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit und
auch Demokratie den Kern der EU ausmachen und für alle Bürgerinnen und Bürger
in ganz Europa gelten müssen.
Seit dem vergangenen Jahr sind auch in Belarus die Stimmen
der Demokratie, der Freiheit und des Rechts immer vernehmbarer geworden: erst
einige, dann tausende, dann zehn-, dann hunderttausende. Und es sind vor allem
drei mutige Frauen, die der Verfolgung und den Repressionen zum Trotz diesen
Stimmen Gesicht gegeben haben und geben.
In Würdigung ihres mutigen und ermutigenden Einsatzes gegen
die brutale staatliche Willkür, Folter, Unterdrückung und die Verletzung
elementarer Menschenrechte durch ein autoritäres Regime, für Demokratie,
Freiheit und Rechtsstaatlichkeit ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die
Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahr 2022 die
belarussischen politischen Aktivistinnen Maria Kalesnikava, Swetlana
Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo.
Die drei Leitfiguren der belarussischen demokratischen
Bewegung sind energiegeladene, lebendige Symbole für den Geist der Freiheit.
Ihre Opfer sind beispiellos. Ihre Botschaften sind ansteckend und aufrüttelnd.
Sie sind das unbeugsame Signal an die eigene belarussische Gesellschaft, ihr Schicksal
in die Hand zu nehmen; sie sind auch das Signal an eine ermüdende europäische
Gesellschaft, wieder überzeugt und kämpferisch für die in Jahrhunderten
erstrittenen europäischen Werte einzutreten, die heute in der weltweiten
Auseinandersetzung um Profit und Vorherrschaft, aber auch durch den Gleichmut
vieler Bürgerinnen und Bürger selbst gefährdet sind.
Der Geist der belarussischen demokratischen Bewegung darf in
Europa nicht scheitern.
Maria Kalesnikava wurde am 24. April 1982 in Minsk geboren.
Sie studierte Flöte und Dirigieren an der Staatlichen Musikakademie in Minsk,
anschließend Alte und Zeitgenössische Musik an der Hochschule für Musik und
Darstellende Kunst Stuttgart (bis 2012), woraufhin sie in verschiedenen
Ensembles in Deutschland spielte. Von 1999 bis 2019 unterrichtete sie Musik,
zunächst in Belarus, anschließend in Deutschland. Ab 2016 arbeitete sie an
zahlreichen Musikprojekten in Deutschland und leitete Projekte in Belarus mit
Beteiligung von Musikern aus dem Ausland. 2019 wurde sie Künstlerische Leiterin
des Kulturzentrums „OK-16“ in Minsk. Zur Präsidentschaftswahl 2020 war sie
zunächst führendes Mitglied der Kampagne des Oppositionellen Wiktor Babariko.
Swetlana Tichanowskaja wurde am 11. September 1982 in der
belarussischen Provinzstadt Mikaschewitschy geboren. Nach dem Besuch der
Mittelschule studierte sie ab 2000 Pädagogik an der Staatlichen Pädagogischen
Universität in Masyr mit dem Schwerpunkt Englisch und Deutsch. Anschließend
arbeitete sie als Übersetzerin; nach der Geburt ihrer zwei Kinder war sie
überwiegend als Hausfrau tätig. Sie ist mit dem Geschäftsmann und Blogger
Sergej Tichanowski verheiratet.
Veronica Tsepkalo wurde am 7. September 1976 in Mahiljou
geboren. 1998 graduierte sie an der Fakultät für Internationale Beziehungen der
Belarussischen Staatlichen Universität. 2004 bis 2006 folgte ein weiteres
Studium an der Staatlichen Wirtschaftsuniversität. Die zweifache Mutter ist mit
dem Gründungsdirektor des Belarussischen Hochtechnologieparks, früheren
Diplomaten und IT-Berater Valeri Tsepkalo verheiratet, dessen Bewerbung um das
Präsidentenamt sie aktiv unterstützte. Bis zu ihrer erzwungenen Flucht
arbeitete sie in Belarus als Senior Manager für Geschäftsentwicklung für
Microsoft. Derzeit ist sie Vorsitzende der Belarus Women‘s Foundation, die
weiblichen politischen Gefangenen und deren Kindern hilft.
Die gemeinsame Geschichte der drei starken und furchtlosen
Frauen beginnt im Mai 2020. Als dem weithin bekannten Regimekritiker Sergej
Tichanowski, der später aus fadenscheinigen Gründen inhaftiert wird, von der
Zentralen Wahlkommission die Präsidentschaftskandidatur verwehrt wird,
entschließt sich seine Frau, die bis dahin politisch nicht in Erscheinung
getretene Swetlana Tichanowskaja, kurzerhand selbst zur Bewerbung – und wird
zum Vorwahlkampf zugelassen. Binnen der folgenden zwei Monate muss sie nun
100.000 gültige (Original-)Unterschriften sammeln; in einem autokratischen
System – und zumal unter Pandemiebedingungen – selbst für bekanntere
demokratische Bewerber ein durchaus ambitioniertes Unterfangen.
Als am 14. Juli die endgültige Entscheidung verkündet wird,
wer zur Präsidentschaftswahl zugelassen wird, sitzt der besonders hoch
gehandelte Lukaschenko-Gegner Wiktor Babariko bereits seit Wochen in Haft und
wird von der Wahl ausgeschlossen. Dem ebenfalls als aussichtsreich geltenden
und noch auf freiem Fuß befindlichen Valeri Tsepkalo wird die Zulassung
verweigert, da mehrere zehntausend der von ihm eingereichten
Unterstützer-Unterschriften nicht anerkannt werden.
Swetlana Tichanowskaja dagegen, die „Kandidatin aus dem
Nichts“ (taz, 23.7.2020), die vom aktuellen Machthaber in ihrer Wirkung auf die
Bevölkerung offensichtlich zunächst völlig unterschätzt wird, kann zur Wahl
antreten.
Nur Tage später gelingt ihr gemeinsam mit Maria Kalesnikava
und Veronika Tsepkalo, was der belarussischen Opposition über Jahrzehnte
gefehlt hat: eine Bündelung der Kräfte. Unter Hintanstellung vorangegangener
Rivalitäten und politischer Unterschiede und unter Einbeziehung auch kleinerer
Parteien und Gewerkschaften, die ihre Expertise und Ressourcen einbringen,
bilden die drei so unterschiedlichen Frauen ein Bündnis, das vor allem ein
großes Ziel eint: die Überwindung von Diktatur und Totalitarismus und ein
demokratischer Aufbruch in Belarus.
In den kommenden Wochen vermögen es die Drei, breiteste
Bevölkerungskreise persönlich zu erreichen; allein eine zentrale Kundgebung
Ende Juli in Minsk zieht nach Schätzung der Menschenrechtsorganisation Wjasna
über 60.000 Teilnehmer an, denen das Trio freilich kein in allen Einzelheiten durchdekliniertes
politisches Programm vorträgt und sich – anders als frühere
Oppositionskandidaten – auch nicht in eine antirussische Ecke stellen lässt;
vielmehr bekennen sie sich zu Demokratie und Freiheit, wollen auf legalem Wege
die Wahl für sich entscheiden, um das Land von der Diktatur zu befreien, die
politischen Gefangenen freizulassen und möglichst rasch tatsächlich freie und
faire Wahlen einzuleiten.
So gewinnend, neu und direkt die drei Wahlkämpferinnen bei
ihren Auftritten wirken, deren emotionale Botschaft in Form von Faust, Herz und
zum „Victory“ gespreizten Fingern bald zum unverwechselbaren Zeichen des
Aufbruchs wird, so gefährlich ist die Mission, auf die sie sich begeben haben.
Nachdem ihr Mann bereits inhaftiert ist und die Drohungen, was ihrer Familie
zustoßen könnte, immer unverhohlener werden, schickt Swetlana Tichanowskaja
ihre beiden Kinder mit der Großmutter nach Litauen. Valeri Tsepkalo reist
zwischenzeitlich mit seinen Kindern nach Moskau. Die drei Frauen führen ihren
Wahlkampf unerschrockenen fort.
Als das angebliche Ergebnis der „Wahlen“ vom 9. August 2020,
die gegen alle internationalen Standards verstoßen, verkündet wird, soll
Alexander Lukaschenko gut 80, Swetlana Tichanowskaja gerade einmal zehn Prozent
der Wählerstimmen erhalten haben. Unabhängigen Beobachtern zufolge hat Swetlana
Tichanowskaja tatsächlich jedoch die Mehrheit der Stimmen auf sich vereint. Als
sie zur Zentralen Wahlkommission geht, um gegen die Manipulation zu
protestieren, muss sie, von den belarussischen Sicherheitskräften bedroht, nach
Litauen fliehen; um Repression und Verhaftung zu entgehen, war bereits einige
Stunden zuvor Veronica Tsepkalo ihrer Familie nach Moskau gefolgt.
Maria Kalesnikava, die sich weigert, das Land zu verlassen,
wird im September 2020 inhaftiert und im September 2021 wegen angeblicher
Vorbereitung eines Komplotts zur illegalen Machtergreifung und Gefährdung der
nationalen Sicherheit zu elf Jahren Haft verurteilt. Und wenn sie am Tag der
Urteilsverkündung im Gerichtssaal – in einer Art Käfig stehend – die
gefesselten Hände lächelnd einmal mehr zu einem Herzen, dem Symbol der Liebe,
formt, ist dies eine Botschaft, die die Menschen in Belarus und auch weit
darüber hinaus berührt und ermutigt.
Die Proteste gegen die „Wahlergebnisse“, denen sich
zehntausende, teilweise über hunderttausend Bürgerinnen und Bürger anschließen,
und der von Swetlana Tichanowskaja mit dem Ziel, einen friedlichen,
demokratischen Übergang zu koordinieren, initiierte Koordinierungsrat werden
vom belarussischen Regime mit Repressionen, Verhaftungen und vielfach
willkürlicher Gewalt beantwortet. Um einen regierungskritischen Blogger
verhaften zu können, schrecken die Machthaber im Mai 2021 nicht einmal davor
zurück, ein Flugzeug zu entführen und zur Landung zu zwingen. Und sie schrecken
im Herbst 2021 auch nicht davor zurück, schutzbedürftige Flüchtlinge
auszunutzen und zu gefährden, mit dem Ziel, die EU zu destabilisieren und ihre
Werte zu diskreditieren.
Kürzlich schreibt Swetlana Tichanowskaja, die gemeinsam mit
Veronica Tsepkalo und zahlreichen weiteren Mitstreitern unverändert für
Freiheit und Demokratie in Belarus kämpft: „Ich sehe jeden Tag, wie weitere
Menschen für ihre Überzeugungen und politischen Haltungen inhaftiert werden.
Das sind nicht nur Personen, die in der Öffentlichkeit stehen wie mein Mann
Sergej Tichanowski oder meine Freundin Maria Kalesnikava. In Belarus kann heute
jeder zum politischen Gefangenen werden. […] Aber dann denke ich an den Mut der
Belarussen, die für Freiheit und Demokratie aufstehen. Er ist so mächtig und
ich bin so stolz, diesen Aufbruch zu sehen. Er gibt mir täglich Hoffnung für
meine Kinder, meinen Mann und unsere gemeinsame Zukunft.“ (ZEIT ONLINE,
9.8.2021)
Ein Aufbruch, der die Unterstützung und Solidarität der
Europäischen Union, ihrer Institutionen und ihrer Zivilgesellschaft verdient.
Mit Maria Kalesnikava, Swetlana Tichanowskaja und Veronica
Tsepkalo ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des
Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahr 2022 drei mutige Frauen, die
unter schwierigsten politischen Bedingungen, unter Einsatz ihrer persönlichen
Freiheit und Unversehrtheit, dem Diktator von Belarus die Stirn geboten haben;
drei herausragende Persönlichkeiten, die für das eintreten, was den Kern des
europäischen Projektes ausmacht: Menschenrechte, Frieden und Freiheit,
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Solidarität. Mit ihrem entschiedenen und
furchtlosen Einsatz sind die drei belarussischen Leitfiguren zu einem wichtigen
Vorbild für den demokratischen Freiheitskampf nicht nur für hunderttausende
Landsleute, sondern weit über die belarussische Grenze hinaus geworden.
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